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SWR2 Wort zum Tag

19MAI2020
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„Jetzt ist es aber genug! Es reicht!“ – Die Stimmungslage in der Bevölkerung ändert sich: War anfangs noch ein breiter gesellschaftlicher Konsens erkennbar, im Zuge der Bekämpfung der Corona-Pandemie auf vieles zu verzichten, so wächst inzwischen eine gewisse Ungeduld.

Verständlich. Für viele steht in den Wochen der Corona-Schutzmaßnahmen die wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel, für manche hat die lange Zeit des Warten-Müssens das berufliche Aus bedeutet. Und ohne Perspektiven auf Veränderung einfach nur abwarten zu müssen, macht mürbe.

Was mich in diesen Tagen aber noch mehr beschäftigt, ist die Frage nach der „Halbwertszeit“ meiner Geduld, also danach, wie lange sie währt. Wie viel Geduld bringe ich auf, um etwas durchzustehen? Wie gespannt darf mein Geduldsfaden sein, bis er reißt?

Wenn ich über diese Fragen nachdenke, merke ich zunächst, dass meine Geduld schon lange nicht mehr auf die Probe gestellt war. Ich bin diesbezüglich – sportlich ausgedrückt – etwas eingerostet. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der die Verwirklichung von Interessen und die Befriedigung von Bedürfnissen relativ schnell vonstatten gehen kann. Wir leben im Zeitalter der Beschleunigung – wohl nicht zuletzt genau deshalb…

Geduld, und zwar: Geduld ohne klare Terminvorgabe, ist also eine harte Übung. Sie erinnert mich an zähe Autofahrten in der Kindheit. Geduld sei eine Tugend, hat man mir damals gesagt, und so heißt es noch heute. Aber ist das wahr? Ist Geduld überhaupt etwas Menschliches, oder sind wir Menschen nicht von Natur aus ungeduldig?

Interessanterweise redet die Bibel an vielen Stellen von der Geduld Gottes. Die scheint angesichts der bitteren Erfahrungen in der Beziehungsgeschichte Gottes mit den Menschen auch bitter nötig. Gott hat Geduld mit den Menschen, wenn sie andere Wege gehen als das, was er seinen Menschen orientierend an die Hand gibt. Und er hat Geduld zu warten, bis sie von Irrwegen umkehren.

Ich frage mich, ob ich nicht etwas lernen kann von der Geduld Gottes oder besser – wie es biblisch heißt – von seiner Langmut. Ich möchte lernen, meine Lebenszeit mit einem großzügigeren Maß zu messen. Ich möchte mir und anderen mehr Zeit lassen und den Bedürfnisaufschub neu lernen – und auch darum bitten.

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SWR2 Wort zum Tag

18MAI2020
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Wochenlang lagen die Schutzmaßnahmen der Corona-Pandemie lähmend über dem Land. Vieles, sonst ganz selbstverständlich, war mit einem Mal nicht mehr möglich.

Ich habe auch vieles vermisst in den zurückliegenden Wochen, Besuche bei den Enkeln, Kulturveranstaltungen, mit Freunden wandern gehen und einkehren. Doch zugleich fand ich es gut, einmal zu spüren, was mir fehlt, wenn vieles nicht so möglich ist, wie ich es gewohnt bin. Ich finde es gut, neu zu erspüren, was mir wichtig ist und was vielleicht weniger wichtig, was ich wirklich vermisse und worauf ich auch gut und gerne ein paar Wochen verzichten kann – Prioritäten neu sortieren.

Und ja, auch bei mir stellt sich das Bedürfnis ein, etwas „nachzuholen“, worauf ich unfreiwillig verzichtet habe. Doch manchmal habe ich in diesen Tagen den Eindruck, mit den Lockerungen nach dem Lockdown müsse schnellstmöglich der so genannte Normalzustand wiederhergestellt werden; will heißen: der Zustand von früher.

Wahrscheinlich ist es ein tiefes Bedürfnis von uns Menschen, nach einer Zeit ungewohnter Erfahrungen und Herausforderungen zum Üblichen, Altvertrauten, „Normalen“ eben, zurückzukehren. Aber was ist eigentlich „normal“? Ist es „normal“ so, wie es früher einmal war? Ist das Gewohnte normal? Oder lehrt die Erfahrung von etwas Außergewöhnlichem nicht auch, das Altvertraute, das Übliche neu zu bewerten?

Wenn ich die biblische Rede von der „Umkehr“ recht verstehe, dann ist damit keine Rückkehr zum Althergebrachten gemeint, sondern ein Umdenken. Die Erfahrungen, die ich in einer Ausnahmesituation machen kann, sollen korrigierend in meinen üblichen Lebensverlauf eingreifen.

In den zurückliegenden Wochen habe ich es genossen, dass es weniger Verkehr auf unseren Straßen gab und dass keine Kondensstreifen den Himmel durchkreuzten. Die Verlangsamung der Ausbreitung des Virus hat auch mein Lebenstempo verlangsamt – und diese Entschleunigung hat mir gut getan. Ich habe alte Formen, meine Freizeit zu gestalten, neu entdeckt, und Beziehungen anders gepflegt. Ich habe mich auch daran gewöhnen können, dass es Ladenschließzeiten und geschlossene Konsumtempel gibt – jedenfalls auf Zeit. Die Frage steht im Raum: Zu welcher „Normalität“ will ich zurück? Und vielleicht will ich nicht einfach eine Rückkehr, sondern besser eine Umkehr?

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SWR2 Wort zum Tag

28MRZ2020
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Nah ist / und schwer zu fassen der Gott“ – so beginnt der späte Hymnus „Patmos“ von Friedrich Hölderlin. Es ist jenes Gedicht, dem eine der bekanntesten Zeilen Hölderlins entnommen ist, die viele als Redensart kennen: „Wo aber Gefahr ist, wächst / das Rettende auch.“ Vielleicht ein tröstlicher Gedanke, gerade in diesen herausfordernden Zeiten!

In seinem Gedicht „Patmos“ beschreibt Hölderlin die Sehnsucht des Menschen nach Gottesbegegnung und er erzählt von der Erfüllung solcher Sehnsucht. Dabei tauchen biblische Bilder auf, von Christus, seinem Leben, Sterben und Auferstehen – bei Hölderlin immer auf eine für ihn ganz eigentümliche Weise vermischt mit der Götterwelt des antiken Griechenlands.

„Nah ist / und schwer zu fassen der Gott“ – dieses Gefühl kenne ich auch. Ich kenne Zeiten der Gottesgewissheit in mir, der Verbundenheit mit Gott im Medium biblischer Geschichten oder im Gebet. Aber es gibt eben auch diese Kehrseite in mir: Gott und seinen Willen nicht zu begreifen, zum Beispiel in diesen Tagen der Corona-Plage. Das Gefühl, nicht zu wissen, wer er eigentlich ist und wo er zu finden sei.

Friedrich Hölderlin, der vor 250 Jahren in diesen Märztagen geboren wurde, hat ein Leben lang mit der Religion und dem Gottesglauben gerungen. Pfarrer hätte er werden sollen – nach dem Willen seiner pietistischen Mutter; doch diesem Ansinnen hat er sich konsequent entzogen, bis zuletzt in seiner Einsiedelei in jenem Tübinger Turm, unter der Maske eines Verrückten. Und doch hat er die Religion nicht aufgegeben, besser: sie hat ihn nicht losgelassen. Nur: er musste seinen eigenen Zugang zu ihr finden.
Und es ist erstaunlich, wie viel Frömmigkeit sich in Hölderlins Gedichten findet.

Die Ambivalenz menschlicher Gotteserfahrung hat er jedenfalls treffend auf den Punkt gebracht – und erinnert mich dabei manchmal an den Beter des Psalms 139 aus der Bibel. Auch er kann Gott nur schwer fassen, schwer begreifen, und flieht sogar vor einer bedrängenden Nähe Gottes, um schließlich erkennen zu müssen: einen Zufluchtsort vor der Gegenwart Gottes gibt es nicht. Doch am Ende seines Weges steht dann eine andere Einsicht: das Gefühl, nicht verloren, sondern von Gottes guter Macht gehalten zu sein, umfangen zwar, aber auch geborgen.

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SWR2 Wort zum Tag

27MRZ2020
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„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst“ – sagt ein anonymer Beter des Psalms 8 in der Bibel. Der vergleichsweise kurze Psalm ist eine kleine Ode des Staunens über die wunderbaren Schöpfungswerke Gottes, zu denen auch der Mensch gehört: Welt und Mensch sind Wunder Gottes.

Doch der achte Psalm enthält auch noch andere Aussagen über den Menschen; zum Beispiel spricht er von der beherrschenden Stellung des Menschen im Kosmos der Natur. Der Mensch ist auch ein „Herrschaftswesen“, ein König, und Könige werden – gerade im Alten Testament – ziemlich ambivalent beurteilt.

Der Mensch hat es gelernt, sich die Natur zu unterwerfen. Im aktuellen Kampf gegen den Corona-Virus sehen wir, wie wichtig dies für sein Überleben ist. Doch nicht immer übt der Mensch seine Macht im Einklang und zum Wohle der Schöpfung aus, geschweige denn zu ihrem Segen. Der Mensch beutet die Natur auch gnadenlos aus. Die Aussagen aus Psalm 8 haben zumindest etwas Schillerndes.

Diese so zeitgenössisch anmutende Einsicht kannten auch andere Autoren der Antike, Sophokles etwa in seinem Drama „Antigone“. Dort tritt zu Beginn des zweiten Akts ein Chor weiser Männer auf, die viel gesehen und erfahren haben und sich ihren Reim machen auf das Menschengeschlecht:

„Ungeheuer ist viel. Doch nichts ist ungeheurer als der Mensch…“ So hebt der Chorgesang an, und dann folgen eine ganze Reihe von Beispielen für die ungeheure Schaffenskraft und Macht des Menschen über die Natur: über den Ackerboden, über das Meer, über die wilden Tiere… ganz ähnlich wie in Psalm 8.

Nicht zu vergessen: es sind Menschen, die hier sprechen, die also über ihre eigene Macht staunen, aber auch über sie erschrecken und sie hinterfragen und bewerten. Bei Sophokles bleibt die Frage nach der Ungeheuerlichkeit des Menschen und seines Tuns in der Schwebe. Es ist nicht so recht zu erkennen, was daraus folgt.

Der Beter des Psalms 8 weiß sich immerhin an Gott den Schöpfer verwiesen, ihm gegenüber verantwortlich. Auch nach einer – hoffentlich bald überstandenen – Corona-Pandemie ist es die Aufgabe des Menschen, die Schöpfung zu bewahren und sein Wissen nicht nur zum eigenen Wohl, sondern auch zum Wohl der Natur und Mitwelt einzusetzen. Gerade dann!

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SWR2 Wort zum Tag

26MRZ2020
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Im Moment gibt es nur ein Thema: „Corona“. Verständlich! Da greift ein neuartiges Virus um sich – und es fehlen alle Erfahrungen, wie man damit eindämmend und heilsam umgehen kann. Die aktuellen massiven Einschränkungen im sozialen und öffentlichen Leben zeugen davon.

Eine große Herausforderung für alle: Da muss der Familienalltag neu geplant werden, berufliche Tätigkeiten sind still gestellt oder wandeln sich, und Zeiten, die sonst mit sportlichen Unternehmungen, kulturellen Veranstaltungen oder geselligen Treffen gefüllt werden, bleiben leer…

Ich frage mich: Sind die Herausforderungen nur Problem, Belastung, Depression? Oder bergen sie auch Chancen? Für mich, für die Beziehungen, in denen ich stehe, für diese Gesellschaft?

Die verordnete Zwangspause wirkt zunächst einmal lähmend – und sie kann zu quälender Langeweile führen. Was tun, wenn das, was sonst meine Freizeit bestimmt – Kino, Konzerte, Sport, Feste feiern und Essen gehen – nicht mehr möglich ist? Vielleicht lassen sich in den Pausen aber auch Freiräume entdecken.

Wir befinden uns gegenwärtig vom Kirchenjahr her ja in der Fastenzeit. Das Prinzip des Fastens war schon immer „Freiheit durch Askese“. Anstelle üblicher Gewohnheiten, die den Alltag bestimmen, kann man im Fasten Neues entdecken: die Zeit üblicher Nahrungszubereitung und des Essens lässt sich füllen durch Beten und Meditieren. Das war die traditionelle Praxis seit Jahrhunderten, bis man das Fasten neu definiert hat als Zeit der Enthaltsamkeit von bestimmten Konsumgütern oder Luxusartikeln: kein Alkohol, kein Fernsehen, keine Fahrten mit dem PKW…

Gewiss, zum Fasten entscheidet man sich in der Regel freiwillig, während mir die Corona-Pandemie eine Zwangspause verordnet. Dennoch könnte die gewonnene Zeit Gelegenheit für Dinge eröffnen, die sonst hinten anstehen: ein gutes Buch lesen, mit den Kindern spielen, im Garten arbeiten oder auch Beten, Meditieren, zur inneren Ruhe finden.

Manch einer mag in diesen Tagen von apokalyptischen Gefühlen ergriffen sein. Immerhin, die gesellschaftliche Welt, in der wir leben, ist eine andere geworden. Ich möchte jedoch eine Ermutigung aussprechen, so wie es die biblischen Propheten auch getan haben: In vielen Krisen, auch in dieser, liegt eine Chance zur Selbstbesinnung und Veränderung.

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SWR2 Wort zum Tag

18JAN2020
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„Was glauben die Deutschen?“ – So oder ähnlich wird gerne bei Umfragen zur Ermittlung des religiösen Pegelstandes gefragt. Und das nicht nur aus soziologischem Interesse, sondern auch im Auftrag der Kirchen.

Aber wie kann man „Glauben“ messen? Woran will man ihn festmachen? Oftmals werden in derlei Befragungen Besucherzahlen in Gottesdiensten ermittelt oder es wird das ehrenamtliche Engagement in Kernbereichen kirchlicher Arbeit aufgelistet. Aber was sagt das über den Glauben aus, der doch eine „Herzensangelegenheit“ ist?

Bisweilen werden auch „klassische Glaubensinhalte“ abgefragt: „Glauben Sie, dass Jesus der Sohn Gottes ist?“ – „Glauben Sie an die Auferstehung der Toten?“ – „Glauben Sie, dass Gott die Welt geschaffen hat?“

Manchmal überlege ich, wie ich selbst darauf antworten würde. Würde ich es vollmundig bejahen? Oder würde ich – wahrscheinlich eher – sagen: Ja, aber… Denn all diese Glaubensformeln sind doch erklärungsbedürftig, zumindest in dem Sinne, dass ich dabei zugleich mich selbst erkläre, wie ich das verstehe und was es mir bedeutet.

Gewiss, es ist gut und wichtig, dass wir Glaubensformeln haben wie zum Beispiel das „Apostolische Glaubensbekenntnis“ aus dem 2. Jahrhundert. Es gibt Traditionen, die die Inhalte des christlichen Glaubens umreißen und ihn so erkennbar unterscheiden von anderen Glaubensinhalten. Indem ich mich unter diese Formeln stelle, nehme ich eine Art Identitätsmarker in Sachen Religion an. Ich reihe mich ein in eine Glaubensüberlieferung, die Jahrhunderte überdauert und Kontinente umspannt.

Doch in der Theologie hat man seit jeher unterschieden zwischen den Glaubensinhalten und dem Glaubensakt selbst. Letzteren halte ich für weitaus bedeutsamer. Das Glaubensbekenntnis beginnt mit den Worten „Ich glaube“ – und genau darum geht es doch in erster Linie: dass ich für mich selbst ein Verhältnis bekomme zu diesem Gott, von dem da die Rede ist. Dass ich für mich kläre, wem ich vertraue oder woran ich mein Herz hänge – wie Martin Luther sagt. Welche Antworten erwarte ich von Gott auf die bewegenden Fragen des Lebens? Welche Kraft erwarte ich von ihm bei der Bewältigung meiner Lebensaufgaben? Welche Erfahrungen und Entdeckungen mache ich auf dem Weg des Glaubens? All das ist mehr als etwas, das man nur auf einem Fragebogen abhakt. Es ist lebendiger Glaube.

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SWR2 Wort zum Tag

17JAN2020
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Religion, Christentum, Kirche – all das gründet auf Glauben und auf Glaubensbekenntnissen. In Gottesdiensten und Predigten geht es immer wieder um „den Glauben“. Glaubensbekenntnisse werden zitiert und neu formuliert.

Doch wenn ich die Bibel, wenn ich die Propheten des Alten Testaments beispielsweise, wenn ich Jesus recht verstehe – dann geht es beim Glauben mindestens ebenso um die Kraft des Zweifels. Ich meine damit eine Art „gesunde Skepsis“ – Bestehendes und scheinbar Selbstverständliches zu hinterfragen. Dazu können Religion und Glaube durchaus etwas beitragen: in einer Art „Zweifelsbekenntnis“. Doch wie könnte das aussehen, so ein Bekenntnis zum Zweifel aus der Kraft des Glaubens?

Die inzwischen fast schon wieder verklungene Botschaft des Weihnachtsfestes sagt, dass Gott Mensch wurde. Dass er menschliches Dasein auf sich nahm, teilnahm an unserer Menschlichkeit mit all ihrer Größe, Stärke, aber auch Niedrigkeit und Tragik. Wenn dies aber wahr ist, dass Gott menschliches Leben teilt, weil er nicht irgendwo über uns Menschen schweben will, sondern mitten in unserem Leben ankommen – dann ist es auch wahr, dass Menschen nicht Gott spielen müssen. Mit der Menschlichkeit Gottes hat die Vergötterung, die Selbstvergötzung des Menschen ihr definitives Ende gefunden.

Deshalb ging und geht eine starke Kraft des Zweifels aus von der Macht des Glaubens. Die frühen Christen haben Jesus als den alleinigen Herren akzeptiert und den Herren dieser Welt in ihren totalitären Machtansprüchen den Abschied gegeben. In der Zeit des Nationalsozialismus sind manche Christen für ihren Widerstand gegen einen Führerkult gestorben. Und auch demokratisch gewählte Amtsinhaber sind nur Menschen mit begrenzten Einsichten. Mögen sie sich noch so machthungrig und allmächtig gebärden.

Es ist die Kraft des Zweifels, solche Selbsteinschätzungen zurechtzustutzen auf normal menschliches Maß. Blendende Selbstdarstellungen in Politik und Wirtschaft werden hinterfragt, Argumente gehört statt einem blinden Vertrauen auf menschengemachte Autorität – weil es diese Kraft des Zweifels gibt, die auch aus dem Glauben stammt, aus dem Glauben an denjenigen, der wahrhaft alle Macht in seinen Händen hält – Gott sei Dank!

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SWR2 Wort zum Tag

16JAN2020
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„Ich glaube – hilf meinem Unglauben.“ Das steht als biblisches Motto über dem Jahr 2020. „Jahreslosung“ nennt sich das. Sie wird seit fast 300 Jahren von der Herrnhuter Brüdergemeine ausgegeben. Ein per Los gezogenes Bibelwort, ein Leitmotiv – zum Bedenken, zum Nachdenken, zur Orientierung.

„Ich glaube – hilf meinem Unglauben.“ Der biblische Zusammenhang führt in eine Geschichte aus dem Neuen Testament: Der Vater eines wahrscheinlich an Epilepsie leidenden Jungen ist verzweifelt. Niemand kann dem Jungen helfen. Epilepsie war damals unbekannt, ebenso therapeutische Maßnahmen oder Medikamente. Man hielt es für eine Art dämonischer Besessenheit.

In seiner Not wendet sich der Vater an Jesus: „Wenn du kannst, so erbarme dich und hilf.“ Jesus reagiert zunächst scheinbar distanziert: „Was heißt das: Wenn du kannst…? Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt.“ Und darauf fällt der Satz aus dem Mund des Vaters: „Ich glaube – hilf meinem Unglauben.“

Was mich fasziniert an diesem Satz ist, dass er kein vollmundiges, laut tönendes Glaubensbekenntnis ist, sondern ein zaghaft und realistisch vorgetragenes Selbstzeugnis. Der Vater nimmt all seine Hoffnung zusammen; ja, er vertraut Jesus, dass er etwas tun kann. Aber er weiß zugleich um die Ohnmacht seines Vertrauens, um seinen Glauben auf der Kippe.

Hier geht es nicht darum, einen starken Glauben zu rühmen und Unglauben zu verurteilen. Hier geht es um die Wahrheit des Glaubens – und die besteht darin, dass ich mich oft genug in allem Vertrauen auf Gott als schwach, als ohnmächtig, als kleingläubig empfinde. Und das darf auch so sein, denn wir sind Menschen und nicht Gott.

Wird mein Gebet um Heilung den gewünschten Erfolg bringen? Werden sich die Herzen der Menschen, die Böses im Sinn haben, zum Guten kehren, und so die Welt sich zu einem friedlichen und gerechten Lebensort wandeln? Manchmal glaube ich es und manchmal auch wieder nicht. Glaube und Zweifel, Resignation und Hoffnung gehen mitten durch mich hindurch. Aber ich kann es tun wie der Vater des kranken Kindes in der Geschichte aus dem Evangelium: diese meine missliche und so gemischte Lage einfach Gott anvertrauen – im Gebet.

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SWR2 Wort zum Tag

09NOV2019
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Manche Mauern müssen weg. Die in Berlin zum Beispiel – die musste weg. Eine Wand zog sich mitten durch die Stadt – rund dreißig Jahre lang. Zerschnitt Stadtteile, Straßenzüge und Häuser. Teilte auf in Ost und West, in Gut und Böse. „Antifaschistischer Schutzwall“ war sie den einen, bloße „Schandmauer“ den anderen, ein Gefängnis den dritten. Ein Todesstreifen mit Stacheldraht, Scharfschützen und Selbstschussanlagen. Viele, die sich mit dieser Grenzziehung nicht abfinden wollten, blieben darin hängen, blieben liegen. Diese Mauer musste weg – unbedingt.

Gewiss: Manche Mauern sind auch sinnvoll. Kleine Grenzmarkierungen zum Beispiel, die Bereiche abstecken, innerhalb derer man sich zuhause und geborgen fühlt. Eine Welt so ganz ohne Grenzen fände ich – glaube ich – nicht erstrebenswert. Völlig offene Grenzen bedeuten ja immer auch Schutzlosigkeit. Und Ängste solcher Art erleben wir in diesen Zeiten zur Genüge.

Es gibt Grenzen, die markieren Schutzräume, zäunen ein, was langsam an Lebensgewohnheiten gewachsen ist – so wie die Umfriedung eines Beets im Garten die Pflanzen dort schützt. Solche Grenzen wollen nicht einsperren, aussperren oder Begegnung verhindern. Sie weisen nur Schutzräume aus. Und solche Grenzen verdienen Beachtung.

Freilich, sie werden auch nicht auf Tod und Leben verteidigt. Sie werden nicht massiv und undurchdringlich hochgemauert, sondern überschaubar gehalten. Sie lassen sich öffnen und passieren.

Manche Mauern sind sinnvoll, manche müssen weg. Und manche Mauern bleiben einfach, ob man will oder nicht. Sie erweisen sich als ausgesprochen hartnäckig, lassen sich nicht mit Hammer und Meißel bearbeiten, lassen sich auch nicht so einfach niederreißen.

Vorurteile zum Beispiel und alt eingesessene Meinungen darüber, wie die anderen sind – die da „drüben“, die „Ossis“, die „Wessis“, die „Besserwessis“. Vielleicht braucht es zwei, drei Generationen, um Menschen an eine Mauer aus Stein zu gewöhnen, und dann drei oder vier Generationen, um die Mauern von Vorurteilen wieder Schicht für Schicht abzutragen.

Der Vereinigungstaumel vom 9. November 1989 endete im Kater danach. Und es kursierte das böse Wort von der Mauer, die wieder her muss. Nein, sie darf nicht wieder her, diese Mauer! Nieder mit dem Beton zwischen den Häusern und Gärten! Weg mit dem Beton in den Köpfen!

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SWR2 Wort zum Tag

08NOV2019
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„Gibt es noch Grenzen?“, so sinniert ein durch Berlin brausender Chauffeur in Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“. Er hat eine Limousine aus Vorkriegstagen an den Drehort zu einem Film zu überführen und macht sich während der Fahrt so seine Gedanken.

Mich hat der Film „Der Himmel über Berlin“ schon immer fasziniert. Ich empfinde ihn als prophetisch, in mancherlei Hinsicht. 1987 in die deutschen Kinos gekommen erzählt er eine Story in der damals noch geteilten Stadt – und resümiert dabei, so ganz nebenbei, die deutsche Geschichte seit 1945. Die unüberwindliche innerdeutsche Grenze, die Mauer, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Nur zwei Jahre später ist diese Mauer, ist die Teilung Deutschlands Geschichte.

Ein besonderes Erlebnis war für mich die Aufführung des Films während des Berliner Kirchentags im Juni 1989 samt einer Diskussion mit dem Regisseur Wim Wenders. Die Zeichen der Zeit standen auf Wandel. Wenige Wochen später besetzten DDR-Bürger die Prager Botschaft, drängten auf Reisefreiheit. In Leipzig und anderen ostdeutschen Städten kamen im Herbst DDR-Bürger zu Friedensgebeten zusammen und demonstrierten anschließend zu Tausenden für politische Freiheiten. Im November fiel die Mauer in Berlin und anderswo.

Wenn ich den Film heute sehe, entdecke ich andere, ebenso aktuelle Zeitansagen, denn manche Grenzen blieben oder kehrten zurück. „Gibt es noch Grenzen? Mehr denn je“, sagt der Chauffeur aus „Der Himmel über Berlin“, und weiter: „Zwischen einzelnen Grundstücken gibt es Niemandslandstreifen, getarnt durch eine Hecke … Jeder Hausherr nagelt sein Namensschild als Wappen an die Tür … Das deutsche Volk ist in so viele Kleinstaaten zerfallen, wie es einzelne Menschen gibt.“

Eine prophetische Botschaft: In einem grenzenlosen Deutschland oder Europa richten Menschen immer neue Grenzen zwischen sich auf – Grenzen der Mentalität, der Herkunft und Kultur, Grenzen des Eigentums, der Gesinnung und des Lebensstils. Und es bedarf eines neuen Aufbruchs über die individualistische Kleinstaaterei hinaus. Das geht nicht ohne Offenheit und Vertrauen, ohne Empathie für den anderen und Interesse am anderen. Oder um es mit den Worten Jesu zu sagen: Es geht nicht ohne eine Nächstenliebe, die nicht schon an Nachbars Garten ihre Schranken findet, sondern sich zu einer „Fremdenliebe“ weitet.

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