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SWR4 Abendgedanken

20NOV2023
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Ich war gerade zum Studium nach Rom gezogen und musste gleich wieder zurück.

Die Freundin meines Bruders war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Wie furchtbar!

Ich bin also mit dem Nachtzug heimgefahren, und dann direkt nach der Beerdigung wieder aufgebrochen, um den Nachzug nach Rom zurück zubekommen. Denn mein Studium hat dort am nächsten Tag begonnen – und das wollte ich nicht verpassen.

Ich glaube, ich hatte in München eine knappe dreiviertel Stunde Aufenthalt.

Was ich aber nicht erwartet habe. Dort am Bahnsteig sitzt Christian, ein guter Freund von mir. Er ist extra nach München mit dem Zug gekommen, um mich für die paar Minuten zu sehen. Um mich in den Arm zu nehmen. Und eine halbe Flasche Wein mit mir zu trinken.

Ich habe es immer noch im Ohr, wie er zu mir sagt: „Ich konnte Dich nicht einfach so alleine wieder zurückfahren lassen.“

Das ist jetzt 19 Jahre her.

Ich bin ihm heute noch dankbar dafür. Und wir sind immer noch Freunde. Es gibt immer noch Umarmungen, manchmal auch Wein und auch Treffen an Bahnsteigen. Gott sei Dank.

Denn es ist schrecklich, wenn Menschen in schweren Situationen allein sind. Und es ist schrecklich, wenn ich daran denke, wie viele Menschen in schweren Situationen sich alleingelassen fühlen. Zum Beispiel im Alter, wenn die Kinder inzwischen aus dem Haus sind und es dort so still geworden ist. Oder die Menschen auf der Flucht, wenn sie Heimat und Familie verlassen mussten und bei uns weder Sprache noch Kultur kennen. Oder eben, wenn ein lieber Mensch verstorben ist.

Deshalb bete ich heute Abend zuhause für die Menschen, die mich in schwierigen Situationen begleitet haben. Mich eben nicht alleine gelassen haben. Ich möchte im Gebet „Danke“ für diese Menschen sagen, dass es sie gibt.

Und anschließend werde ich einen von ihnen anrufen. Einen, von dem ich weiß, dass er es gerade nicht leicht hat und sich alleine fühlt.

Denn ich muss nicht warten, bis etwas ganz Schlimmes passiert, um mich bei jemanden zu melden oder ihn in den Arm zu nehmen. Und dafür braucht es auch nicht unbedingt immer einen Bahnsteig oder eine Flasche Wein.

Aber ich bin davon überzeugt: Es ist wichtig, dass wir Menschen haben, die uns immer wieder in den Arm nehmen und sagen: „Ich kann dich nicht so einfach alleine lassen!“

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SWR4 Abendgedanken

04AUG2023
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Schräg gegenüber von mir wohnt eine junge Familie. Als ich letzte Woche das Haus verlasse, ist die Mutter gerade im Gespräch mit einer älteren Dame. Dann kommen die Jungs auch noch dazu und die Dame fragt sie: „Na, wie war’s beim Einkaufen?“ Einer der beiden Jungs strahlt sie über beide Ohren an: „Ich hab ein Eis bekommen!“

Einfach wunderbar. Wie für den Jungen in diesem Augenblick alles gut war.

Ich gehe weiter und komme an einem Parkplatz vorbei. Auf dem gibt‘s ‘nen kleinen Grünstreifen mit einem Baum. Mir fällt eine ältere Frau auf, die sich dort an den Rand auf den Bordstein gesetzt hat. Ihre Wanderstöcke neben sich. Die Augen geschlossen. Ich sehe ihr an, wie sie den Platz und die Sonne und einen Moment der Ruhe genießt.

Und ich merke, wie ich den glücklichen Jungen und die zufriedene Frau bewundere, ja ein wenig beneide.

Bei mir in der Studentengemeinde in Tübingen ist gerade unglaublich viel los. Am Ende vom Semester kommt alles zusammen. Die letzten Veranstaltungen, die Planung für das nächste Semester und die Zimmervergabe für unsere Wohnheime. Und nebenbei müssen noch die Texte für die Abendgedanken fertig werden.

Ich frage mich, wann ich das letzte Mal so gestrahlt habe, wie der Junge wegen seinem Eis, und so zufrieden war, wie die Frau auf dem Grünstreifen. Und erst jetzt fällt mir auf: Es geht ja nur um ein Eis und einen Moment Sonne. Natürlich hatte ich die letzten Tage auch mal Zeit für ein Eis und auch für eine Kaffeepause. Aber ich merke es fast gar nicht mehr. Weil mir gerade erst einmal nur auffällt, wie lange ich ohne Pause telefoniert, Termine abgesprochen habe und wieder einmal nicht mit allem fertig geworden bin, was ich eigentlich hinbekommen wollte.

Aber will ich wirklich so meinen Tag sehen?

Jeden Abend versuche ich kurz vor dem zu Bett gehen zu beten und auf meinen Tag zurückzublicken. Heute Abend nehme ich mir ein Beispiel an dem glücklichen Jungen und an der zufriedenen, älteren Dame. Heute werde ich versuchen zwei Dinge in den Blick zu rücken. Zum einen: Welche Momente haben mich heute strahlen lassen? Augenblicke, die einfach gut waren. Zum anderen: Wo gab es auch für mich heute Grünstreifenmomente? Augenblicke des Durchatmens und der Stille.

Es gab sie. Da bin ich mir ganz sicher. Ich werde sie wiederfinden. Bei meinem Rückblick. Und ich werde kurz strahlen und kurz durchatmen und dann „Danke“ dafür sagen.

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SWR4 Abendgedanken

03AUG2023
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In Tübingen gab es einen besonderen Stadtrundgang. Wir haben dabei Menschen aus verschiedenen Religionen an den Orten besucht, wo sie sich treffen. Am meisten hat mich dabei der Gebetsraum der Sikh-Religion fasziniert. Die ganze Religion des sogenannten Sikhismus war mir bis dahin ziemlich fremd.

In Tübingen haben sie eine kleine Gemeinde und ein kleines Haus. Als wir es betreten, müssen wir alle die Schuhe ausziehen, und es liegt eine Kiste mit Tüchern bereit, damit wir unsere Köpfe bedecken. Aus Ehrfurcht und Respekt.

Wir betreten einen Raum, ausgelegt mit ganz viel Teppichen. Dort gibt es etwas, das wie ein Altar aussieht. Eine reichverzierte große Decke liegt darüber. Ich kann nur ahnen, dass etwas darunter schlummert.

Ein junger Mann mit Turban erzählt uns, was es heißt, „Sikh“ zu sein. Dass seine Religion ihren Ursprung in Indien hat und eine Heilige Schrift besitzt. Die liegt nämlich auf dem Altar unter der Decke. Und jetzt wird es für mich wirklich spannend. Der Sikh erzählt, dass das Buch für ihn wie ein Lebewesen ist. Wie ein guter Freund, der ihn begleitet. Alles, was darin steht, möchte er in seinem Leben so gut er kann lebendig werden lassen. Darin steht zum Beispiel, wie er jeden Tag beten soll, dass er tolerant gegenüber Menschen mit einem anderen Glauben sein soll und auch, wie er ärmeren Menschen helfen kann.

Wir dürfen dann noch beim Abendgebet dabei sein und sehen, wie dieses „lebendige“ Buch unter Gesängen in ein Tuch eingewickelt und hinter dem Altar in einen kleinen Raum gebracht wird. Dort wird es in einem Bett schlafen gelegt. Und am nächsten Morgen wieder aufgeweckt und herausgeholt.

Zuerst finde ich: Das klingt alles ziemlich verrückt. Aber dann bin ich fasziniert, wie lebendig die Sikhs ihre Religion feiern und leben.

Und so weit weg von den Vorstellungen des Christentums ist das gar nicht. Ein Teil der Bibel beginnt mit den Worten: „Und das Wort ist Fleisch geworden.“ Im katholischen Gottesdienst wird die Bibel geküsst und so besonders wertgeschätzt. Und auch mir geht es bei all dem nicht nur um Worte. Ich will leben, was da steht. Es macht mich nämlich nicht zu einem Christen, nur von Jesus zu hören, wie er mit Menschen damals umgangen ist, dass er niemanden diskriminiert hat und dass er sich für die Schwachen eingesetzt hat. Es ist wichtig, dass ich mir davon eine Scheibe abschneide, versuche, genauso so offen und vorurteilsfrei mit Menschen umzugehen, wie er es getan hat.

Im Endeffekt meinen Glauben genauso lebendig zu leben, wie ich es von den Sikhs erfahren habe.

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SWR4 Abendgedanken

02AUG2023
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In meiner Heimat beginnt gerade das „Altstadtsommerfestival“. Zehn Tage gibt es dann mitten in der Stadt Konzerte, Open-Air Kino, Beach Volleyball und auch für die Kinder ein Extraprogramm. Das Ganze beginnt heute Abend unter dem verheißungsvollen Titel „Leutkirch vespert“. Dazu wird quer durch die Altstadt eine riesig-lange Tafel aufgebaut. Für Getränke ist gesorgt. Jeder darf dann sein Essen selbst mitbringen, irgendwo hinsitzen und dann wird gemeinsam gevespert. Ein bisschen, wie ein riesiges Picknick.

Was ich so genial an dieser Aktion finde? Jeder darf einfach dazukommen und Platz nehmen. Familien, Paare, Alleinstehende. Wie wunderbar, wenn jeder einfach einen Platz bekommen kann. Jenseits von Alter, Geschlecht, Herkunft oder sozialem Status. Und das alles, wenn das Wetter mitmachte, unter freiem Himmel. Ohne dass jemand eine Räumlichkeit betreten muss. Ohne irgendeinen Dresscode. Wer möchte, setzt sich zu Freunden. Wer neue Menschen kennenlernen will, setzt sich einfach zu jemanden, den er noch nicht kennt. Nirgends kann man so gut und so schön Menschen kennenlernen, wie beim gemeinsamen Essen und Trinken.

Das hat schon Jesus gewusst. Von ihm wird allerdings auch erzählt, dass sich manche dabei über ihn geärgert haben. Weil er gern mit verschiedenen Menschen am Tisch saß, gegessen, getrunken und geredet hat. Und dabei nicht gefragt hat, wer sie sind, was sie tun, wo sie herkommen und ob sie die „richtige“ Gesellschaft für ihn sind. Die, die Gesellschaft gebraucht haben, ein gutes Wort oder ein offenes Ohr, das waren die Richtigen.

Ihm wurde vorgehalten, er würde mit Zöllnern, Huren und Sündern am Tisch sitzen. Na und? Im Endeffekt waren die nur neidisch, die Jesus das vorgeworfen haben. Sie hätten gerne gehabt, dass er sich zu ihnen setzt. Und zwar exklusiv. Und nicht einfach zu jedem.

Ich habe diese Bibelstelle nie so gelesen, dass Jesus sich bewusst zu allen Zöllnern, Huren und Sündern gesetzt hat, sondern, dass er zu den Menschen saß, die jemanden gebraucht haben. Ich stelle mir da einfach auch einen großen Tisch vor und die die kamen, waren die Richtigen. Unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft oder sozialem Status. Vielleicht haben manche auch einfach ihr Essen mitgebracht und für Getränke wurde gesorgt. Vielleicht wurde an diesem Tisch nicht nur Essen geteilt, sondern man hat sich Geschichten erzählt, was einen sorgt und was ängstigt, vielleicht auch einfach, was einen gerade so beschäftigt. Damals in Kafarnaum, wo Jesus gelebt hat, genauso, wie heute bei mir in Leutkirch.

Und genau das ist für mich entscheidend in unserem christlichen Glauben. Dass jeder eingeladen ist. Jeder seine Geschichte mitbringen darf. Jeder einen Platz bekommt. Ausnahmslos.

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SWR4 Abendgedanken

01AUG2023
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Ich sitze auf einer Bierbank. Umgeben von circa 40 jungen Erwachsenen. Es ist Abend und Zeit zum gemeinsamen Gebet. Ein junger Mann geht herum und verteilt kleine, leere Zettel und Stifte. Er begrüßt uns, spricht ein Gebet, das vom vergangenen Tag und von Dankbarkeit handelt und sagt anschließend, wir sollen mal in die Runde blicken. Überlegen, was wir mit den hier Anwesenden schon erlebt haben. Er gibt uns dann Zeit, damit wir auf die anderen Zettel kleine Nachrichten mit einem Dankeschön für diese Menschen schreiben können.

Ich schaue in die Runde. Ich bin nur zu Gast und kenne fast niemanden. Aber gesagt, getan. Auch ich mache mich ans Werk und schreibe zwei, drei Zettel. Dann darf jeder nun herumgehen und diese beschriebenen Dankeschöngrüße den anderen an ihren Platz legen. Ich frage mich, ob ich wohl einen Zettel bekommen werde. Aber als ich zurückkomme, liegt ein kleines, gefaltetes Blatt da.

Darauf steht: „Huhu, ich lieb deine Ausstrahlung. Du machst jeden Tag besser, an dem du mir über den Weg läufst! Du gibst mir Halt, obwohl wir uns nicht kennen. Bleib genauso.“

Ich bin ganz gerührt. Ich weiß, von wem die Worte sind. Von einer jungen Frau, die in Tübingen studiert. Wir kennen uns nicht gut, aber wir treffen uns ab und an auf der Straße. Begrüßen uns herzlich. Reden kurz. Gehen weiter. Ich hätte nicht gedacht, wie gut ihr das tut.

Warum sagen wir den Menschen, die uns guttun, das so selten? Warum braucht es dafür manchmal erst leere Zettel und Stifte?

Zuhause lese ich den Zettel nochmals und schreibe einem guten Freund eine Nachricht. Schreibe, dass mir unsere regelmäßigen Gespräche fehlen. Dass ich so dankbar bin, so vieles aus meinem Leben so offen mit ihm besprechen zu dürfen. Weil ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, so einen guten Freund zu haben. Und ich schreibe auch noch, dass ich hoffe, dass er mich nicht für sentimental hält. Und er antwortet kurz darauf, dass es ihm genauso geht. Er ist gerade unterwegs und meldet sich ausführlicher, sobald er wieder daheim ist.

Der Zettel, den ich bekommen habe, liegt jetzt auf meinem Schreibtisch. Als Erinnerung. Als Denkzettel. Damit ich nicht vergesse, manchen lieben Menschen in meiner Umgebung ab und an zu sagen: Du tust mir gut oder du fehlst mir oder Danke, dass es Dich gibt.

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SWR4 Abendgedanken

31JUL2023
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Ignatius von Loyola war kein einfacher Zeitgenosse. Der Gründer des Ordens der Jesuiten. Streng mit sich und anderen. Als junger Kerl wollte er Soldat werden, vielleicht sogar ein Kriegsheld. Ein ziemlicher Raufbold muss Ignatius in seinen jungen Jahren auch gewesen sein.

Doch die Soldatenkarriere ist vorbei, als ihm mit 30 Jahren der Unterschenkel von einer Kanonenkugel zerfetzt wird. Er muss danach immer wieder operiert werden und lange Zeit im Bett herumliegen. Wahrscheinlich fragt er sich dabei nicht nur einmal, wie es mit ihm weitergehen wird. Und was macht der junge Ignatius? Er liest Ritterromane. Einen nach dem anderen und als er alle durchhat, liest er, weil nichts anderes mehr da war, Heiligenlegenden und eine Geschichte vom Leben Jesu. Dabei macht er eine spannende Entdeckung, die sein Leben verändern wird. Er mag die Ritterromane. Sie unterhalten ihn gut. Aber die Heiligenlegenden und was er über Jesus liest, das hallt noch länger in ihm nach. Beschäftigt ihn. Tröstet ihn in seiner Situation.

Diese Erfahrung wird zur Grundlage seiner Spiritualität. Die Erkenntnis, dass manche Worte mehr Resonanz in uns finden als andere. Er nennt es die „inneren Regungen“ und entwickelt daraus Gebete und eine bestimmte Methode, diesen inneren Regungen nachzugehen. Dabei rät er, 30 Tage lang zu schweigen, in dieser Zeit Teile aus dem Neuen Testament zu lesen und regelmäßig ein Gespräch mit einem Begleiter zu führen. Sich mit diesem darüber zu unterhalten, was einen beschäftigt und auch tröstet. So, wie er es selbst, erfahren hat, als er ans Bett gefesselt war.

Ignatius hat geglaubt, dass sich Gott in diesen „inneren Regungen“ zeigt, und das glaube ich auch. Aber natürlich hat nicht jeder 30 Tage Zeit, um zu schweigen und zu beten. Ich auch nicht. Mir fällt es manchmal ja sogar schwer, überhaupt Zeit zum Beten zu finden. Ignatius hat das gewusst. Sein Rat lautet deshalb: Dann bete wenigstens abends vor dem Ins-Bett-gehen, schau in Stille auf deinen Tag und versuch herauszufinden, was von heute noch nachhallt, was dich noch beschäftigt, was dich tröstet.

Quasi eine Kurzform seiner 30-tägigen Übungen. Dieses Abendgebet war für ihn das wichtigste Gebet überhaupt. Und genauso versuche ich es selbst seit Jahren. Jeden Tag. Es ist für mich eine Hilfe geworden, vielen Begegnungen vom vergangenen Tag nochmals Raum zu geben und herauszufinden, wo Gott vielleicht seine Finger im Spiel hatte.

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SWR4 Abendgedanken

23JUN2023
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Mein Auto wurde gestohlen….

Ich würde gerne etwas Schöneres erzählen, aber es ist nun mal so.

Während ich Gottesdienst hatte, wurden mir aus meiner Jacke mein Schlüssel und mein Geldbeutel gestohlen. Und anschließend auch das Auto.

Wahrscheinlich ist es dann für den Täter ein leichtes Spiel gewesen, mein Auto zu finden. Denn man muss ja nur auf den Schlüssel drücken und es blinkt einem entgegen.

Schlüssel weg. Geldbeutel weg. Auto weg. Und der nächste Gottesdienst saß mir schon im Nacken.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich zur Mesnerin sage: „Geben Sie mir bitte Ihr Auto und holen die Polizei. Ich muss leider noch weiter.“

Danach komme ich zurück und meine Anzeige wird aufgenommen.

Mein Auto wird zwei Tage später auf einem Parkplatz gefunden. Ausgeräumt und kaputt. Danke schön für nichts. Wenn die Täter wenigstens etwas damit angefangen hätten, aber nein, sie haben es nur kaputt gemacht.

Das Ganze ist schon eine Weile her. Wenn ich heute darüber nachdenke, kann ich es immer noch nicht fassen, dass mir so etwas passiert ist. Jetzt kann ich darüber lachen, aber ich brauche das sicherlich nicht noch einmal.
Und trotzdem hatte es auch unverhofft etwas Gutes. Denn seit diesem Autodiebstahl bin ich mit einem der Polizisten und seiner Frau befreundet. Als er meine Anzeige aufnahm, hat er nämlich sehr gelacht, weil er gemerkt hat, dass ich fast mehr um meine gestohlenen CD’s, die im Auto waren, trauerte als um das Auto selbst. Ich weiß inzwischen, dass er das gut verstehen konnte, weil er selbst ein ziemlicher Musiknarr ist. Und wir haben im Gespräch dann festgestellt, dass ich seine Frau flüchtig kenne. Und so kamen wir ins Reden, und die beiden haben mich irgendwann zu sich eingeladen. Der Diebstahl war schlimm, aber weil ich so hilflos dabei war, hatte ich mit Menschen zu tun, die ich vielleicht sonst nie getroffen und mit denen ich sonst nie geredet hätte.

Das mit dem Auto ist lange her. Die Freundschaft ist geblieben. Ich sage es mal so: Mir wurde mein Auto gestohlen, und ich bin weit davon entfernt zu sagen, dass alles, was einem an Schlimmen passiert, irgendwie sein Gutes hat. Aber hier ist etwas Gutes entstanden.

Manchmal kann aus etwas richtig Blödem, auch etwas echt Schönes entstehen, zum Beispiel eine Freundschaft, die mir wesentlich wichtiger ist als jedes Auto.

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SWR4 Abendgedanken

22JUN2023
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Ich stelle mir das Leben eines Heiligen ziemlich langweilig vor. So ein Mensch, den die katholische Kirche „heilig“ nennt, hat doch sicher ein Leben lang nur gebetet und ist fromm in die Kirche gegangen.

Ich weiß schon, dass das auf die meisten gar nicht zutrifft, aber irgendwie hält sich dieses Bild in meinem Kopf. Aber zu dem Mann, der heute im Namenstagskalender steht, passt es wirklich überhaupt nicht: Thomas Morus.

Er war Jurist und Politiker und unglaublich gebildet. Er lebte Anfang des sechzehnten Jahrhunderts in England. Das war eine Zeit, in der sich in ganz Europa sehr viel verändert hat. Theologen, wie Martin Luther, haben zurecht Missstände in der katholischen Kirche kritisiert und die Freiheit des Menschen ins Zentrum ihres Denkens gerückt. England selbst kämpfte damals mit einer immer größere werdenden Armut unter der landwirtschaftlichen Bevölkerung.

Mich beeindrucken zwei Eigenschaften von Thomas Morus besonders. Zum einen, sein weiter Blick, seine Träume und Visionen, die er für die Gesellschaft hatte. In seinem bekanntesten Werk „Utopia“ träumt er von einem Miteinander, in dem alle Menschen gleich sind, alles gemeinsam besitzen, jeder bekommt eine gute Ausbildung in der Landwirtschaft und in einem Handwerk. Friede, Vernunft und Toleranz sind die Grundwerte hinter dem ganzen Staatssystem von Utopia.

Zum anderen fasziniert mich, wie glaubwürdig er war. Wie er seinen Werten und Überzeugungen bis zum Tod treu geblieben ist. Er soll gesagt haben: "Nie habe ich daran gedacht, einer Sache zuzustimmen, die gegen mein Gewissen wäre". Der englische König Heinrich der VIII. kämpfte darum, sich von Rom loszusagen. Aber weil Thomas Morus ihm in diesem Konflikt keinen Eid leisten wollte, ließ dieser ihn wegen Hochverrats hinrichten. 

Ich möchte nachher in meinem Abendgebet mit diesen Eigenschaften von Thomas Morus auf meinen Tag zurückblicken. Ich werde mich zum Beispiel fragen, ob in meiner Gegenwart über Dritte gesprochen worden ist und ob ich den Mut hatte zu sagen: So spricht man nicht über Menschen, die nicht anwesend sind. Wenn ich ihn nicht hatte, nehme ich es mir für das nächste Mal vor.

Und ich mache mir bewusst, warum ich diesen Mut haben möchte. Weil ich davon überzeugt bin, dass ich und mein Umfeld dadurch ein bisschen friedlicher, vernünftiger und toleranter werden.

Wenn ich über Thomas Morus nachdenke, verstehe ich besser, warum Menschen wie er „heilig“ genannt werden und warum von ihnen immer noch gesprochen wird. Eben nicht, weil ihr Leben langweilig war, sondern, weil sie Eigenschaften hatten, die mir auch in meinem heutigen Leben noch etwas sagen können.

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SWR4 Abendgedanken

21JUN2023
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Ich war für ein paar Tage in einem Kloster, um zu schweigen. Aber anfangs komme ich nur schwer zur Ruhe. Mir ist überhaupt nicht nach schweigen. Weil ich kurz davor noch Streit mit jemandem hatte. Eigentlich bin ich hier, um Ruhe zu finden, aber dieser Streit lässt mich nicht los. Ich fühle mich unverstanden und ärgere mich über den anderen, über mich und dass wir uns nicht verständigen konnten. Und so bin ich nun hier: durcheinander, aufgewühlt, verärgert.

Neben Gottesdiensten und Zeiten des Gebets habe ich dort im Kloster täglich ein Gespräch mit einer Schwester. Dabei geht es um alles, was mich gerade so beschäftigt. Natürlich erzähle ich ihr auch von diesem Streit. Die Ordensschwester ist Mitte achtzig und wir kennen uns schon ein paar Jahre. Ich bin immer wieder von ihr beeindruckt. Sie hat über Jahrzehnte hinweg so viel Menschen im Gespräch und im Gebet begleitetet. Ich spüre, wie aufmerksam sie mir zuhört und dann sagt sie direkt und klar: „Beten Sie für diesen Menschen. Denn ich bin davon überzeugt, dass es etwas verändert, wenn wir bewusst für die Menschen beten, mit denen wir uns schwertun. Nicht um Gott zu sagen, was er an diesem Menschen verändern soll, sondern um im Gebet einfach an ihn zu denken. Denn das alleine verändert schon etwas.“

„Beten sie für diesen Menschen“…

In der Bibel steht etwas ähnliches. Die Menschen um Jesus herum hatten auch Konflikte und taten sich manchmal schwer miteinander und dann sagte Jesus einmal zu ihnen: „Liebt eure Feinde.“

Wenn ich den Ratschlag der Schwester übertrage, könnte es auch heißen: „Betet für Eure Feinde.“ Vielleicht geht es gar nicht darum, jemanden sofort zu lieben, sondern um einen ersten Schritt in diese Richtung. Einen Menschen, für den ich aber bete, versuche ich ohne Bewertung in den Blick zu nehmen. Ich bete für ihn und nicht gegen ihn.

Ich habe es versucht und natürlich hat das unseren Streit nicht in Luft aufgelöst. Wir sind keine Freunde geworden. Aber hat etwas verändert. Das nächste Gespräch mit ihm ist ruhiger abgelaufen, und die Kluft zwischen uns ist ein bisschen kleiner geworden. Ich glaube, das Gebet hat mir geholfen, einen Schritt innerlich zurückzumachen und ihn als Mensch zu sehen - nicht nur als einen, der eine andere Meinung hat und mit dem ich gerade streite.

Die Schwester hatte Recht und seitdem ist es mir wichtig nicht nur für die Menschen zu beten, die ich mag, sondern besonders auch für die, mit denen ich mir schwertue.

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SWR4 Abendgedanken

20JUN2023
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Ich war in Rom im jüdischen Viertel unterwegs. Es ist früh am Morgen und ich habe mir gerade beim Bäcker etwas Süßes auf die Hand geholt. Plötzlich kreuzt eine Horde Kinder meinen Weg. Wahrscheinlich eine Grundschulklasse. Sie kommen in Zweierreihen aus einem Gebäude, lachend und redend. Erst auf den zweiten Blick sehe ich, dass manche der Jungs eine Kippa tragen, eine traditionelle jüdische Kopfbedeckung. Ich bleibe kurz stehen, schaue der Schulklasse zu, freue mich, wie unbeschwert die Kinder sind, lächle und möchte weitergehen. Doch dann werde ich von einem Mann höflich, aber deutlich aufgehalten. Ich bin mir zuerst nicht sicher, was er von mir will. Erst als ich mich umschaue, versteh ich: Die Kinder haben Personenschutz. Es sind mindestens vier Männer, die ich um sie herum erkenne, die nervös vor, neben und hinter ihnen gehen. Sie achten darauf, dass niemand ihnen zu nahe kommt. Und noch mehr. Ich sehe, wie jemand ein Foto von den Kindern machen möchte und einer der Männer ihm gleich ernst entgegenschreit: No Fotos! So werden die Kinder zum Bus geleitet, der keine 50 Meter weiter an der nächsten Straße steht.

Die Unbeschwertheit, die ich gespürt habe, als ich anfangs die Kinder sah, ist dahin. Ich lächle nicht mehr. Erinnere mich, dass ich gestern erst in diesen Viertel einen Judenstern an die Wand geschmiert sah.

Und jetzt schäme ich mich. Eigentlich möchte ich mich freuen, dass ich in einem Europa lebe, in dem jüdisches Leben wieder sichtbar ist. Diese Kultur und Religion, die so eng mit meiner christlichen Kultur und Religion verwoben ist, die aber leider hauptverschuldet durch mein Heimatland so Schreckliches durchleben musste. Ich möchte mich freuen, dass es wieder jüdischen Leben gibt.

Aber ich schäme mich jetzt. Ich schäme mich, dass ich in einem Europa lebe, in dem wieder Wände beschmiert werden, in dem Kinder, lachende, unbeschwerte Kinder, Personenschutz brauchen. 50 Meter zum Schulbus. Kinder, die dadurch jeden Tag hautnah erleben, dass sie in Gefahr sind, dass es Menschen gibt, die sie ablehnen. Das wird nicht spurlos an ihnen vorübergehen.

Ich fühle mich hilflos. Ich glaube, ich selber sollte in Zukunft besser darauf achten ohne Vorurteile über Menschen zu sprechen, die eine andere Religion und eine andere Kultur haben. Vielleicht kann ich mir dafür von den Kindern ein wenig Unbeschwertheit abschauen.

Und noch etwas kann ich tun. Ich möchte heute Abend für diese Kinder beten. Um eine unbeschwerte Zukunft. Und ich bete für Europa. Für uns alle, dass wir diese Zukunft ermöglichen.

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