SWR4 Abendgedanken
Ich war gerade zum Studium nach Rom gezogen und musste gleich wieder zurück.
Die Freundin meines Bruders war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Wie furchtbar!
Ich bin also mit dem Nachtzug heimgefahren, und dann direkt nach der Beerdigung wieder aufgebrochen, um den Nachzug nach Rom zurück zubekommen. Denn mein Studium hat dort am nächsten Tag begonnen – und das wollte ich nicht verpassen.
Ich glaube, ich hatte in München eine knappe dreiviertel Stunde Aufenthalt.
Was ich aber nicht erwartet habe. Dort am Bahnsteig sitzt Christian, ein guter Freund von mir. Er ist extra nach München mit dem Zug gekommen, um mich für die paar Minuten zu sehen. Um mich in den Arm zu nehmen. Und eine halbe Flasche Wein mit mir zu trinken.
Ich habe es immer noch im Ohr, wie er zu mir sagt: „Ich konnte Dich nicht einfach so alleine wieder zurückfahren lassen.“
Das ist jetzt 19 Jahre her.
Ich bin ihm heute noch dankbar dafür. Und wir sind immer noch Freunde. Es gibt immer noch Umarmungen, manchmal auch Wein und auch Treffen an Bahnsteigen. Gott sei Dank.
Denn es ist schrecklich, wenn Menschen in schweren Situationen allein sind. Und es ist schrecklich, wenn ich daran denke, wie viele Menschen in schweren Situationen sich alleingelassen fühlen. Zum Beispiel im Alter, wenn die Kinder inzwischen aus dem Haus sind und es dort so still geworden ist. Oder die Menschen auf der Flucht, wenn sie Heimat und Familie verlassen mussten und bei uns weder Sprache noch Kultur kennen. Oder eben, wenn ein lieber Mensch verstorben ist.
Deshalb bete ich heute Abend zuhause für die Menschen, die mich in schwierigen Situationen begleitet haben. Mich eben nicht alleine gelassen haben. Ich möchte im Gebet „Danke“ für diese Menschen sagen, dass es sie gibt.
Und anschließend werde ich einen von ihnen anrufen. Einen, von dem ich weiß, dass er es gerade nicht leicht hat und sich alleine fühlt.
Denn ich muss nicht warten, bis etwas ganz Schlimmes passiert, um mich bei jemanden zu melden oder ihn in den Arm zu nehmen. Und dafür braucht es auch nicht unbedingt immer einen Bahnsteig oder eine Flasche Wein.
Aber ich bin davon überzeugt: Es ist wichtig, dass wir Menschen haben, die uns immer wieder in den Arm nehmen und sagen: „Ich kann dich nicht so einfach alleine lassen!“
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