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SWR4 Abendgedanken
In Tübingen gibt es gerade ein interessantes Experiment. Es heißt „Leer-Raum“[1] und findet in der evangelischen Stiftskirche statt. Alle Bänke wurden abmontiert, was den Eindruck, den die Kirche sonst macht, völlig verändert. Es ermöglicht zudem ganz andere, neue Möglichkeiten, den Raum zu nutzen.
Die Stiftskirche ist die mit Abstand größte Kirche in Tübingen, fast so etwas wie ihr Wahrzeichen, weil sich dort vieles abspielt, was für die Stadtgesellschaft wichtig ist. Auch die Gedenkstunde zur Reichspogromnacht morgen. Denn in Tübingen wurde am 9. November 1938 wie in vielen anderen Städten die Synagoge geplündert und niedergebrannt. Politik und Kirche, Schulen und Vereine erinnern daran und mahnen, dass dies nie wieder geschehen darf. Wie wichtig und aktuell das in diesen Zeiten wieder ist!
Die Feier morgen in der Stiftskirche wird in diesem Jahr wohl etwas anders aussehen, weil der Kirchenraum fast leer ist. Da stehen eben keine dicht gedrängten Bänke, die einen zwingen zu sitzen und verhindern, dass eine Bewegung entstehen könnte, oder ein Gespräch. Jede kann sich ihren Platz suchen, wo sie sein will, mit anderen zusammenstehen, die sie sich auswählt, oder ganz für sich sein, fast versteckt hinter einer Säule. Plötzlich kann man in der Kirche tanzen und die Orgel neu hören, weil sich in der leeren Kirche natürlich auch die Akustik verändert. Oder man schweigt einfach, genießt die Weite des großen Kirchenschiffs, den Raum, der auf einmal da ist, wenn alles weg ist, was sonst stört. Wenn sonst die Redner vorne stehen, auf Distanz und von hinten kaum zu sehen, können sie nun in der Mitte stehen und alle die zuhören, drum herum. Musiker können sich mit ihren Instrumenten in der Kirche verteilen und den Raum ganz anders mit Klang erfüllen. Es ist möglich, ein Glas Wein miteinander zu trinken und Brot zu teilen.
Ich weiß nicht, wie die Feier zur Reichpogromnacht morgen gestaltet sein wird. Aber was ich ahne: In dem leeren, offenen Raum wird der Geist sich freier entfalten können – der Geist Gottes in den Gedanken der Menschen. Egal ob sie Christen sind oder Juden oder gar nicht religiös, egal ob Schüler oder Professoren, egal welcher politischen Partei sie angehören. Solche Leer-Räume brauchen wir, die nicht festgelegt sind, sondern offen – für spontane Bewegung, für unerwartete Begegnung, für ungeahnte Begeisterung.
[1]https://www.leerraum-tuebingen.de
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Als ich 1983 mein Abitur gemacht habe, sind amerikanische Mittelstreckenwaffen in Deutschland stationiert worden. Mit Atomsprengköpfen, zur Abschreckung gegenüber Russland. Ich war damals dagegen wie viele meiner Generation, weil wir es für sinnlos gehalten haben mit Waffen zu drohen. Ich hatte deshalb auch einen Aufkleber auf meinem Auto, auf dem stand: Schwerter zu Pflugscharen. Heute nach über vierzig Jahren ist für mich das dazugehörende Bibelzitat aktueller denn je: Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg[1]. Diese Vision einer friedlichen Welt hat der Prophet Jesaja festgehalten. Weil es für ihn der Plan ist, den Gott mit seiner Welt hat. Und solange es nicht so ist, so lange hat Gott sich nicht durchsetzen können, und es wird Lügen gestraft, was ihm wichtig ist.
2026 sollen in Deutschland neue Raketen stationiert werden. Aus dem gleichen Grund wie einst. Ich kann es nicht fassen, dass wir einfach nicht weiterkommen, dass die Menschheit in der Spirale der Gewalt stecken bleibt. Mein Auto hätte Platz für den alten Aufkleber. Aber ob der was nützt? Schließlich muss man doch den Realitäten ins Auge blicken. Ja, das muss man, und ich mache das auch. Ich weiß, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Ich weiß, dass Israel eingekesselt ist von Nachbarn, die das kleine Land ausradieren wollen. Aber ich weiß auch, dass Waffen keine Lösung sind, dass Abschreckung nie zu echtem Frieden führen kann. Und ich leide darunter, dass ich keine Lösung parat habe. So wenig, wie alle anderen, die dem Krieg ein Ende machen wollen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die einzige Möglichkeit darin besteht, die Spirale der Gewalt zu unterbrechen. Aus diesem Grund gibt Jesus den heiklen Rat, die andere Wange auch noch hinzuhalten. Ghandi propagiert den gewaltlosen Widerstand. Ich bin nicht in der Position, anderen so einen Ratschlag zu geben. Weil ich weiß: das klingt wie Hohn in den Ohren derer, die unschuldig angegriffen wurden. Gibt es also keinen Weg, der aus dieser Zwickmühle herausführt?
Politik ist oft ein deprimierendes Geschäft. Wenn Vertrauen einmal verspielt ist, wird es schwer sich zu verständigen, den anderen zu verstehen. Dagegen aber kann man sehr wohl etwas tun. Vertrauensbildende Maßnahmen heißt es, wenn sich Gegner an einen Tisch setzen, wenn kluge Verträge geschlossen werden. Wenn immer und immer wieder Menschen des einen Landes sich mit denen des anderen treffen und gemeinsam etwas auf die Beine stellen. Nur über Vertrauen entsteht Frieden. Und da ist auf allen Seiten noch viel Luft nach oben.
[1] Jesaja 2,4
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Beim Wandern in Südbaden komme ich an eine schöne Stelle. Wo man einen traumhaften Ausblick ins Rheintal hat. Vor mir die Ausläufer des Schwarzwalds, am Horizont die Vogesen, und dazwischen die vielen Straßen und Wege, auf denen Menschen von A nach B unterwegs sind. Es ist ein besonderer Ort, an dem ich stehe. Das haben vor mir schon andere bemerkt und deshalb dort auch Bänke aufgestellt, zum Ausruhen und Schauen. Auf eine setze ich mich, ruhe und schaue. Das mache ich nicht oft, weil ich es wohl nicht so gut kann. Sondern eher unruhig und ungeduldig bin. Aber hier funktioniert es.
Erst versuche ich ein bisschen Ordnung in das zu bringen, was mein Auge wahrnimmt. Wo Frankreich beginnt, wo ich dort im Elsass schon war, wo wohl die Grenze verläuft. Welche Rebsorten es sein könnten drüben am Hang, weil das Laub unterschiedlich gefärbt ist. Ich sehe ein paar Wanderer und die Autos auf der Straße weiter unten, winzig klein. Und auf einmal verändert sich mein Blick. Er geht buchstäblich von außen nach innen. Wie groß schon dieser kleine Ausschnitt von Welt ist, den ich gerade anschaue, und wie groß dann erst die ganze Welt. Und ich auf dieser Bank, quasi ein „Nichts“.
Vor vielen, vielen tausend Jahren ist die Oberfläche im Rheintal so geformt worden, wie sie heute ist, wie ich sie kenne und jetzt sehe, wie sie auf allen Karten dargestellt wird. Aber erst der Rhein, als er noch so viel mehr Wasser geführt hat wie heute, hat das Tal so breit gemacht und die Berge hüben und drüben aufgerichtet. Nun sitze ich nicht mehr nur und schaue, sondern ich staune. Ich staune über das Ungeheure, das Unvorstellbare, das ich da sehe. Welche Kräfte hinter all dem stecken. Wie kunstvoll und schön die Landschaft ist und wie viel Nutzen wir Menschen daraus ziehen. Wein und Äpfel, Straßen und Wälder. Auch welchen Stempel wir der Welt dadurch aufdrücken. Und schließlich staune ich darüber, wie selbstverständlich das alles für mich normalerweise ist. Als ob es gar nicht anders sein könnte. Als ob die Welt nur für mich so gemacht wäre, dass ich alles habe, was ich zum Leben brauche.
Aber das ist nicht so. Und auch das wird mir in diesen Augenblicken da auf der Bank über dem Rheintal bewusst. Nichts ist selbstverständlich von dem, was ich sehe. Und von dem, was ich habe, auch nicht. Und vielleicht verstehe ich zum ersten Mal wirklich, was der Psalmist meint, wenn er schreibt: Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast. / Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke.[1]
[1] Psalm 139,14
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Angst zu haben, das gehört zu uns Menschen. Ängste sind wichtig, damit wir, wenn’s darauf ankommt, die Flucht ergreifen. Dieser Urinstinkt hilft uns, nicht unnötig in eine Gefahr hineinzulaufen. Wenn die Ängste aber außer Kontrolle geraten, wenn sie uns überwältigen, dann wird das Leben zur Hölle, und wir laufen auch dann weg, wenn gar keine echte Gefahr besteht. Deshalb sollte man mit der Angst von Menschen kein Spiel treiben. Aber genau das versuchen manche, leider auch die, die politische Verantwortung tragen. Weil sie wissen: Es ist eine Möglichkeit, Menschen zu beeinflussen. Ängste zu schüren, ist aber brandgefährlich!
Donald Trump hat genau das getan, als er im Fernsehduell mit Kamala Harris behauptet hat, dass die Flüchtlinge Hunde und Katzen fangen und essen. Ich liebe meinen Hund; und wenn ich mir das Bild vorstelle, das Trump hervorruft, dann graut es mir. Ich könnte denken: „Der wird verhindern, dass das passiert, also wähle ich den.“ Angst vor dem Fremden zu schüren, war und ist immer ein beliebtes Mittel, um auf Stimmenfang zu gehen. Leider hat das auch die Kirche lange praktiziert. Sie hat den Menschen Angst gemacht vor der Hölle, ihnen gedroht, um sie in ihrem Sinn gefügig zu machen, damit sie nicht auf vermeintlich falsche Gedanken kommen. Als ob sie die Wahrheit gepachtet hätte. Als ob es keine andere Meinung geben könnte.
Manchmal kommt es mir vor, als ob unsere Welt ein Stammtisch wäre. Man kann behaupten, was man will. Egal, ob es überhaupt wahr sein kann, oder doch falsch ist. Wer bei uns Asyl sucht, ist nicht grundsätzlich faul. Die Hautfarbe sagt nichts über den Charakter. Nicht jeder Priester vergreift sich an Kindern. Am Stammtisch geht es darum, wer am lautesten schreit und wem es gelingt, die Gefühle der anderen für sich zu gewinnen. Gefühle sind eine sensible Angelegenheit. Sie gehören zu uns, machen uns manchmal erst menschlich. Wer sie missbraucht, trifft uns an einer Stelle, wo wir besonders verwundbar sind. Deshalb bleibe ich vorsichtig. Wer leere Phrasen drischt, dem vertraue ich nicht. Wer es darauf anlegt, meine Gefühle zu manipulieren, den meide ich. Und halte mich um so mehr an die, die leise sind und nachdenklich und vorsichtig und zart.
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Ein Orchester aus Russen und Ukrainern. Bringt das was für den Frieden? Iván Fischer ist fest davon überzeugt, dass es so ist. Fischer stammt aus Ungarn und ist Jude. Er ist Dirigent von Weltrang, dirigiert in den USA und in Israel, in Wien und natürlich in Budapest. So zuletzt am 31. August dieses Jahres bei einem Konzert für den Frieden, kostenlos für alle auf dem Heldenplatz der ungarischen Hauptstadt. Das interessante dabei ist: Das Orchester war zusammengesetzt aus Russen und Ukrainern, aus Israelis und Arabern. Das soll zeigen, dass Musik Ängste und Misstrauen abbauen kann. Der Dirigent Iván Fischer formuliert es so: „Mit der Musik wollen wir unsere gemeinsame Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass das durch den bewaffneten Konflikt verursachte Leid ein Ende haben kann und die Zukunft von gegenseitigem Respekt und Frieden geprägt sein wird.[1]“ Schon früher hat Fischer solche Konzerte organisiert und als junger Dirigent das Budapest Festival Orchestra gegründet – ganz ausdrücklich zur Verständigung mit den Juden in seinem Heimatland Ungarn.
Ich höre gern Musik, besonders am Abend. Dann lasse ich oft nochmals vorüberziehen, was den Tag über so war. Nicht nur, was sich bei mir so getan hat, sondern auch, was in der großen weiten Welt passiert ist. Oft bin ich dann niedergeschlagen oder traurig. Weil es so viel Schlimmes gibt, und weil ich an die vielen Unschuldigen denken muss, die unter den Kriegen in ihrem Land leiden. Aber auch, weil ich mich so hilflos fühle. Ich bin kein berühmter Dirigent. Was kann ich tun, dass sich an diesem Hass etwas ändert? Mit dieser Frage bleibe ich dann oft ratlos zurück.
Manchmal frage ich aber auch, ob das stimmt, und ob das Wenige, das Kleine und Unscheinbare, das mir möglich ist, wirklich so rein gar nichts bringt. Immerhin bete ich für die Armen und Ausgebombten. Ich betone in Diskussionen wie wichtig es ist nicht nur vom Krieg und den Waffen zu sprechen, sondern so oft wie möglich über den Frieden. Ich rufe hier im Radio zur Verständigung auf, weil böse Gedanken und Hass im Kleinen, im eigenen Herzen beginnen. Ich suche den Kontakt mit Andersdenkenden. Ich versuche zuzuhören und zu verstehen, warum andere anders denken als ich. Und ich mache den Mund auf, wo ich sehe, dass jemand sich rücksichtslos verhält.
Das sind Kleinigkeiten im Vergleich mit der großen Gewalt eines Krieges. Aber es ist das, was ich tun kann. Kleine Zeichen. Und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch sie etwas bewirken.
[1]https://ungarnheute.hu/news/budapester-festivalorchester-veranstaltet-kostenloses-friedenskonzert-auf-dem-heldenplatz-75667/#:~:text=Ungarn%20Heute%202024.08.08.&text=Iván%20Fischer%20und%20das%20Budapester,Respekt%2C%20Freundschaft%20und%20Liebe%20werben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40972SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken
Das Wichtigste auf der Welt, die oberste Priorität. Was ist das bloß? Ich konzentriere mich hier einmal auf den Bereich des Glaubens. Also auf die Frage: Was ist das Wichtigste, wenn jemand an Gott glaubt. Das herauszufinden, da könnte einem ganz schön viel in den Sinn kommen. Der Papst, wenn man katholisch ist. Oder Martin Luther für Protestanten. Aber das ist natürlich Quatsch und reicht noch längst nicht, wenn es um das Allerallerwichtigste geht. Die Bibel, weil es die Heilige Schrift ist, und dort vielleicht die Zehn Gebote im Alten Testament oder die Bergpredigt im Neuen. Womöglich kommt man mit dieser Antwort der Sache schon näher. Als Jesus einmal direkt danach gefragt wurde, hat er das Folgende gesagt: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst[1].
Jesus macht es also ziemlich konkret und verständlich, wenn er sagt: Es geht vor allem anderen immer und zuerst um die Liebe. Das ist, finde ich, eine großartige Antwort, der ich sofort hundertprozentig zustimme. Sie ist aber auch schwierig, weil die Liebe etwas so Großes ist, und oft von ihr gesprochen wird, ohne dann genau zu wissen, was eigentlich damit gemeint ist. Liebe: Das können große Gefühle sein. Es kann bedeuten, dass ein Mensch sich einem anderen völlig hingibt, alles um sich herum vergisst. Dann aber besteht auch die Gefahr, dass Liebe blind macht und einen vergessen lässt, wie schlicht die Wirklichkeit ist und wie heftig es oft auf unserer Welt zugeht. Es sind schon schlimme Dinge passiert, und nachher hat einer gesagt, er habe es aus Liebe getan. Gerade wenn’s um Religion geht, wird das Reden über die Liebe gern missbraucht für egoistische Interessen.
Trotzdem halte ich hier einmal fest: Für Jesus ist die Liebe das Größte, das Wichtigste von allem. Eben auch in Glaubensdingen, auch wenn es darum geht zu sagen, was Gott von uns erwartet. Es geht, sagt Jesus, um die Liebe zu Gott und um die Liebe zum Nächsten, also zu dem Menschen, der mir eben gerade nahesteht. Den soll ich lieben.
Was damit konkret gemeint ist, davon gleich mehr nach einer kurzen musikalischen Denkpause.
INSTRUMENTALES ZWISCHENSPIEL
In den SWR4-Sonntagsgedanken geht es heute darum herauszufinden, was das Wichtigste von allem ist. Das Zwischenergebnis lautet: Das Größte ist die Liebe. Aber wie muss ich die Liebe verstehen und dann auch leben, damit sie tatsächlich das Wichtigste wird?
Von Franz von Assisi wird berichtet, er sei ein liebenswerter und liebevoller Mensch gewesen. Die Tiere und Pflanzen hat er als Mit-Geschöpfe des Menschen angesehen. Anderen Menschen ist er mit fast grenzenlosem Vertrauen begegnet. Der englische Schriftsteller Gilbert Chesterton hat sich intensiv mit Franziskus beschäftigt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Franz bei aller Liebe nicht naiv oder blauäugig war. Wörtlich schreibt Chesterton: „Er (also Franz) ehrte alle Menschen und das besagt, dass er sie nicht nur liebte, sondern auch alle achtete.[2]“ Zu einer Liebe, die wirklich groß sein will, größer als alles andere, gehört also, dass man den Menschen achtet, den man liebt. Was für mich so viel bedeutet wie, dass man ihm Respekt erweist. Und damit seine Freiheit akzeptiert, ihn also nicht in eine bestimmte Richtung zwingen will, schon gar nicht, so zu werden wie man selbst.
Achtung – Respekt – Freiheit. Das sind die Spielregeln für wahre Liebe. Sie gelten in der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Ich versuche sie nun möglichst konkret zu machen, damit am Ende wirklich deutlich wird: Solche Liebe ist das Größte, das Wichtigste.
Jemanden zu achten, weil man ihn liebt, bedeutet: Ich traue dem anderen etwas zu, mindestens so viel, wie ich mir selbst zutraue, am besten aber mehr. Ich nehme ernst, wenn er eine andere Meinung hat und lasse diese gelten. Ich sehe in ihm etwas Einmaliges.
Jemanden zu respektieren, weil man ihn liebt, bedeutet: Ich komme niemals auf die Idee, mich für etwas Besseres zu halten, mich über den zu stellen, den ich liebe. Ich lasse mir von ihm etwas sagen, mich korrigieren und nehme Kritik dankend an. Und ich lasse ihn spüren, wie sehr ich ihn schätze und zeige das auch unübersehbar.
Jemanden als frei zu betrachten, weil man ihn liebt, bedeutet schließlich: Ich darf nie Zwang ausüben, nie versuchen, den anderen mit Gewalt zu etwas drängen oder ihn für meine Interessen zu vereinnahmen. Wo Macht ins Spiel kommt, die immer Recht haben will, hat die Liebe keine Chance.
Jesus hält die Liebe für das Wichtigste von allem – überall und für alles.
[1] Markus 12,30f.
[2] G.C. Chesterton, Der heilige Franziskus von Assisi, 1923, 93.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40971SWR1 3vor8
Bei euch aber soll es nicht so sein. Hinter diesen Satz aus dem heutigen Sonntagsevangelium setze ich ein Ausrufezeichen. Weil ich ihn für die vielleicht wichtigste grundsätzliche Forderung halte, die Jesus überhaupt ausgesprochen hat. Bei euch, die ihr zu mir gehört, die ihr euch auf mich beruft, bei euch soll es nicht so sein. Wie soll es nicht sein? Das sagt er einen Satz zuvor. Und den zitiere ich auch noch, weil er an Deutlichkeit ebenfalls nichts zu wünschen übriglässt: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein! Es geht also um die Einstellung zur Macht, genauer: wie man mit den Menschen umgeht, die einem anvertraut sind. Solche „Macht“ gibt es überall: in der Politik, im Berufsleben, in der Schule, in der Familie, in einer Partnerschaft. Die Rollen können zwar wechseln, aber fast immer ist einer der Stärkere. Der oder die kann dann seine Macht ausspielen, kann sie sich zum eigenen Vorteil nutzen. Oder eben nicht. Und exakt das verlangt Jesus. Christen sollen ihre Macht, ihren Einfluss über andere nicht missbrauchen. Darin sollen sie sich ausdrücklich unterscheiden, daran soll man erkennen, dass sie Christen sind und zu Jesus gehören wollen.
Es gibt viele Möglichkeiten, das in die Tat umzusetzen, dieses christliche Anders-Sein. Wenn ein Mensch krank wird, bleibt er Mensch. Und zwar mit aller Würde, die ihm prinzipiell zusteht. Er wird nicht weniger Mensch, weil er nicht mehr allein laufen kann oder aus eigener Kraft seinen Haushalt bewältigt. Im Gegenteil. Je schwächer ein Mensch wird, desto mehr Hilfe verdient er wegen seiner Würde, die unantastbar bleibt. Das zu betonen und sich entsprechend einem Kranken, einem Schwächeren gegenüber zu verhalten, das macht den Unterschied. Als Christ überlasse ich niemanden seinem Schicksal, sondern kümmere mich, wenn ich sehe, dass einer des Lebens müde ist.
Gleichgültig, anonym, ja argwöhnisch – so ist das Zusammenleben unter uns oft. Bei euch soll es nicht so sein, sagt Jesus. Macht es anders. Diese Unterschiede werden andere bemerken, zumal wenn Menschen, die zur Kirche gehören, dabei gemeinsam anpacken. Dann klärt sich auch die Frage, ob Religion und Glauben heutzutage noch einen Wert haben, von ganz allein.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40793Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Manchmal ist es nötig, Wasser in den Wein zu gießen. Und sei’s nur ein bisschen. Um nicht den Eindruck zu erwecken, man wüsste zu genau über eine Sache Bescheid. Gerade wenn es um das Mahl geht, das Christen heilig ist, braucht es das. Das Mahl, das Jesus als sein Vermächtnis betrachtet hat. Als katholischer Priester feiere ich regelmäßig dieses Mahl und übernehme dabei eine höchst delikate Aufgabe. Ich spreche die Worte, die von Jesus überliefert sind. Ich wiederhole sie, als würde er es tun: Das ist mein Leib; das ist mein Blut. Ich schlüpfe gewissermaßen stellvertretend in seine Rolle. Und ich gebe nach alter Überlieferung zum Wein stets einen Tropfen Wasser. Der eigentliche Sinn besteht darin, dass sich in Jesus Göttliches und Menschliches verbunden haben. Für mich ist aber genauso wichtig: Es gibt bei der Feier dieses Mahles einen Rest, den ich nicht in der Hand habe. Ich weiß nämlich nicht so ganz genau, wie sich dieses letzte Mahl Jesu zugetragen hat. Niemand weiß das. Wir haben zwar die Überlieferung der Bibel dazu. Aber dort erfahren wir lediglich, dass es sich um das jüdische Pessach handelt, das Jesus mit seinen zwölf engsten Jüngern feiert, und dass es sein Abschied sein wird vor dem Tod. Und auch all das – Stichwort: Wasser in den Wein - ist niedergeschrieben von Menschen, die nicht selbst dabei waren, die also beschreiben wie sie dieses Mahl verstanden haben.
Kaum anzunehmen, dass es beim Abendmahl so zuging, wie Leonardo da Vinci es in Mailand an die Wand gemalt hat. Auch nicht so, wie wir es heute feiern. Es ist gar nicht wichtig, die Tischordnung zu kennen oder den Inhalt der Gespräche. Das Mahl ist Jesu Vermächtnis. Er wollte, dass die, die an ihn glauben, sich an ihn erinnern, indem sie Brot und Wein – und damit ihr Leben teilen. Und dabei ist für mich – gerade als Priester - immer ein Gedanke maßgebend gewesen: Jesus war großzügig und gastfreundlich. Ich käme deshalb nie auf die Idee beim Mahl jemanden abzuweisen, der darum bittet. Einen Menschen für unwürdig zu halten, gar mich zu schämen, weil er oder sie dabei ist. Egal, wie jemand aussieht, egal wie er denkt oder riecht.
Seit Jesu Tod feiern Christen dieses Mahl. Kein Lauf der Weltgeschichte konnte es zerstören. Weil es denen heilig ist, die an Jesus glauben. Und darum stört mich auch nicht, wenn andere damit nichts anfangen können. Denn was heilig ist, ist unzerstörbar.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40669Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Der Dalai Lama ist ein weiser Mann. Wie ich es von jedem Religionsführer erwarte. Ich wünsche mir, viele die im Christentum, im Islam, im Judentum aufgrund ihrer Stellung etwas zu sagen haben, würden so kluge Sätze sagen wie diesen, der eben vom Dalai Lama stammt:
Menschen wurden erschaffen, um geliebt zu werden.
Dinge wurden geschaffen, um benutzt zu werden.
Der Grund, warum sich die Welt im Chaos befindet, ist,
weil Dinge geliebt und Menschen benutzt werde.
Lieben oder benutzen. Das ist eine harte Alternative. Da gibt es keine Kompromisse, ein bisschen von dem und ein bisschen vom anderen. Wer benutzt, liebt nicht. Wer liebt, darf nicht benutzen. Und wenn es dabei um Menschen geht, liegt besonders viel daran, diese Grenze zu respektieren. „Der hat mich bloß benutzt“, sagen Partner, wenn sie in ihrer Beziehung abgrundtief enttäuscht worden sind, oder Mitarbeiter, die für ihren Chef alles gemacht haben und nachher nicht mal ein Dankeschön kriegen.
Der Dalai Lama sieht das Ganze aber noch viel grundsätzlicher. Er weitet die Unterscheidung aus auf die ganze Erde und die gesamte Menschheit. Für ihn ist der Zustand unserer Welt chaotisch. Er denkt dabei wohl an die Kriege, die so sinnlos sind, die so viele Menschen das Leben kosten. Einen Krieg wie den gegen die Ukraine kann man nur führen, wenn einem die Menschen egal sind, sie nicht als Geschöpfe betrachtet werden. In so einem Krieg werden Menschen wie eine Ware benutzt – die im feindlichen Land und die eigenen. Genauso chaotisch wird unsere Welt, wenn Menschen, die viel besitzen, zu sehr an ihrem Besitz hängen, wenn sie ständig in der Angst leben, etwas zu verlieren, dabei aber die Menschen um sie herum vergessen. Das erleben wir leider zunehmend auch in unserem Land.
Der Dalai Lama ist ein gottesfürchtiger Mann. Und weil er das ist, denkt er groß vom Menschen, achtet er jedes Menschenleben. Denn Gott hat den Menschen groß werden lassen, größer als alles auf unserem Planeten. So sieht das auch der christliche Glaube und folgert daraus: Nur wenn er geliebt ist und das weiß, kann der Mensch sein, wie er soll: gut, rücksichtsvoll, barmherzig.
Lieben oder benutzen – das ist eine feine, aber wichtige Unterscheidung. Sie zu respektieren, vertreibt eine Menge Chaos aus unserer Welt und macht sie besser.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40668Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Kinder statt Krimi. Diese Idee hat die ARD in die Tat umgesetzt. Titelmusik und Vorspann vom TATORT liefen am 18. August fast wie immer. Aber dann erklärt Carolin Kebekus, dass es nicht normal läuft an diesem Krimi-Sonntag-Abend. Eine Störung[1], eine Unterbrechung. Ohne vorherige Ankündigung, also völlig unerwartet. Sie sagt: „Wir müssen jetzt einfach mal über Kinder sprechen!“ Weil die wichtig sind. Wichtiger als jeder Krimi, wichtiger als fast alles, was wir sonst so anschauen und tun. Kinder kommen oft zu kurz.
Alles dreht sich dann in der folgenden Viertelstunde um einen Satz, den jeder kennt und trotzdem so gut wie niemand ernst nimmt: „Kinder sind unsere Zukunft.“ Klar, wer sonst als Kinder. Aber gleichzeitig wird das Gesagte so wenig beherzigt. Kebekus beklagt, dass es noch immer keine Grundsicherung für Kinder in Deutschland gibt, und auch deshalb ein Viertel unter der Armutsgrenze lebt. Schwimmbäder, Sporthallen, Spielplätze. Oft sind die in einem katastrophalen Zustand, weil bei den oft knappen Kommunalhaushalten für die dann kein Geld mehr da ist. Kita-Plätze fehlen, Lehrerinnen sowieso. Nicht vorübergehend, das ist ein Dauerzustand, seit Jahren.
Dabei könnte es ganz anders gehen, würde man Kinder nicht als Störfaktor betrachten, sondern ihnen mehr zutrauen. Da zeigen Kinder, dass sie eine Fernsehsendung moderieren können, sich mit Kinderbüchern auskennen, dass Sport für sie besonders wichtig ist, obwohl das in der Sportschau nie vorkommt. Carolin Kebekus macht darauf aufmerksam, wo es fehlt, wenn man will, dass Kinder wirklich die Zukunft unseres Landes sind. Mobbing in der Schule wird oft nicht ernst genommen, geschweige denn unterbunden. Viele Kinder sind allein gelassen, wenn sie sich im weiten Raum des Internets bewegen und bräuchten da doch unbedingt Unterstützung: um unterscheiden zu lernen, was richtig und gelogen ist, was ihnen guttut oder ihnen auf die Dauer schadet. Ihre Rechte müssen ins Grundgesetz, in unsere Verfassung. Um Kindern endlich den Platz zu geben, den sie als unsere Zukunft haben sollten, dafür kann jeder etwas tun. Eltern, Lehrer, Erzieherinnen, Politiker sowieso. Aber ich auch. Jeden Tag und überall, wo ich mit ihnen zu tun habe. Ich kann sie sehen, hören und lieben, und: Ich kann aushalten, dass sie manchmal stören. Weil sie um so vieles wichtiger sind als jeder Krimi.
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