Zeige Beiträge 1 bis 10 von 212 »
SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken
Es muss gegen Ende der Sommerferien gewesen sein, denn ich erinnere mich noch genau an den großen Blumenstrauß aus Dahlien und Sonnenblumen, der neben dem Telefon stand, als dieser Anruf kam. Die Frau am anderen Ende der Leitung klang verzweifelt. Unter Tränen hat sie mir erzählt, dass ihr Vater im Sterben liege; jeden Moment könne es zu Ende gehen, und sie könne einfach keinen katholischen Priester für eine Krankensalbung erreichen. Überall nur die freundlichen, aber nutzlosen Stimmen auf Anrufbeantwortern. Ob ich nicht kommen könnte? In der Not würde sie, würde wohl auch der Vater, auch mit einer evangelischen Pfarrerin vorliebnehmen. Ich versicherte ihr, dass ich mich sofort auf den Weg machen würde. Und während ich mein Buch mit Gebeten am Sterbebett suchte, ratterten in mir die Gedanken. Ob ich einfach so eine Krankensalbung vollziehen könnte? Und wie ging das überhaupt? Was war wichtig dabei? Wem würde ich helfen und wen damit vielleicht in Schwierigkeiten bringen? Und warum, habe ich mich damals gefragt, ist man auf das richtige Leben eigentlich immer so schlecht vorbereitet?
Der Weg zum Haus, in dem gestorben wurde, war nicht weit; ich klingelte und wurde eingelassen. In der Wohnung hat mich schier der Schlag getroffen. Ein gutes Dutzend Menschen hatte sich da versammelt, alle wuselten hektisch hin und her. Mein erster spontaner Gedanke: Mein Gott, wie soll man hier sterben können bei diesem Betrieb? Vorsichtig habe ich versucht, einen Teil der vielen Leute aus dem Schlafzimmer zu bugsieren. Ein Sohn blieb am Bett sitzen, um einen Psalm, ein Gebet nach dem anderen vorzulesen. Sein Vater sei ein gläubiger Mensch; es würde ihm gefallen. Ich blieb einen Moment bei ihm, hörte die vertrauten Worte eines biblischen Psalms: „Du wirst meine Seele nicht dem Tod überlassen und nicht zugeben, dass dein Geschöpf für immer in die Grube muss. Auch mein Leib wird sicher wohnen.“ Dann habe ich ihn alleingelassen, bin den anderen ins Wohnzimmer gefolgt. Einige weinten, andere rauchten; alle redeten durcheinander und wollten nur das Beste, nur waren sie sich uneins, was in dieser Situation wohl das Beste war. Nun, wer weiß das schon; ich wusste es jedenfalls auch nicht, habe sie erzählen lassen, nachgefragt, versucht, die vielen Gesprächsfaden zu entwirren und nicht abreißen zu lassen. Zwischendurch ging ich nach nebenan, um nach dem Sterbenden zu sehen. Ich habe ihm die Hand auf die Stirn gelegt, seine Handrücken gestreichelt. Ich hatte keine Ahnung, ob der Mann wirklich in seinen letzten Zügen lag.
Endlich hat es an der Tür geklingelt und ein Priester ist aufgetaucht. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen, aber er wusste, was zu tun war.
An den genauen Ablauf oder den Wortlaut der Gebete kann ich mich nicht mehr erinnern; sehr wohl aber an die Ruhe, die sich plötzlich auf alle Anwesenden übertragen hat. Alle Verzweiflung, alle Hektik war mit einem Mal wie weggeblasen. Auch ich konnte mich einfach dem Ritual überlassen und musste nicht mehr nachdenken, was denn nun zu tun wäre. Mit den andern sah ich zu, wie der Priester den Sterbenden an denselben Stellen berührte, die auch ich zuvor intuitiv gewählt hatte, auf der Stirn und an den Händen; nur dass er dazu noch ein extra Salböl verwendete. Schön war das.
Als der Mann etwa eine Stunde später tatsächlich starb, war nur die Tochter bei ihm im Zimmer, die mich angerufen hatte. Gefasst kam sie herüber, bat uns hinein, die wir noch im Zimmer nebenan ausharrten. Sie hatte das Fenster geöffnet, damit, wie sie sagte, die Seele sich nun auf den Weg machen konnte. Und noch einmal fielen mir die Worte aus dem Psalm ein, die ich kurz zuvor gehört hatte: „Du wirst meine Seele nicht dem Tod überlassen. Du wirst nicht zugeben, dass dein Geschöpf für immer in die Grube muss. Auch mein Leib wird sicher wohnen.“ Die schlichte Zuversicht dieser Worte schien sich auf die Anwesenden übertragen zu haben in dem Moment, als der Priester sie dem Sterbenden quasi auf den Leib geschrieben hatte. Als hätte er damit einen Weg geöffnet, auf dem nun alles seinen geregelten Gang gehen, seine natürliche Bestimmung finden konnte. Ein Leben ging zu Ende, und andere Leben gingen weiter, und der Vollzug eines alten Rituals hat dafür gesorgt, dass alle ihren Platz gefunden haben.
Ich habe das nie vergessen. Und es hat mir auch ein bisschen die Angst genommen vor vielen weiteren Begegnungen an Sterbebetten. Immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, wie liebevolle Segensgesten, Berührungen, die gemeinsame Feier eines Abendmahls oder biblische Worte, die so viel älter sind als die Lebenden und die Toten im Raum, eine ruhige Zuversicht vermittelt haben, dass alles sich fügen wird. Ganz so, wie der Psalm es verspricht: „Du wirst meine Seele nicht dem Tod überlassen. Du wirst nicht zugeben, dass dein Geschöpf für immer in die Grube muss. Auch mein Leib wird sicher wohnen.“
Wenn es so weit ist, wünsche ich Ihnen das auch. Und haben Sie keine Scheu, einen Priester zu rufen oder eine Pfarrerin. Rituale tun der Seele gut.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40660SWR Kultur Lied zum Sonntag
Ein bisschen Wehmut schwingt schon mit: Nun sind die Sommerferien vorbei. Und überall im Land hat wieder der normale Arbeitsalltag angefangen. Auch wer keine Kinder oder Enkel im schulpflichtigen Alter hat, konnte in den letzten Wochen von der entspannteren Stimmung profitieren: auf Straßen, in Geschäften, bei der Arbeit. Jetzt müssen sich alle wieder ins Zeug legen. Da heißt es, sich einen Ruck geben. Vielleicht auch mit einem Lied:
In Gottes Namen fang ich an, was mir zu tun gebühret;
mit Gott wird alles wohlgetan und glücklich ausgeführet.
Was man in Gottes Namen tut, ist allenthalben recht und gut
und kann uns auch gedeihen.
Eigentlich erstaunlich: Nur vier Lieder finde ich im Evangelischen Gesangbuch in der Rubrik „Arbeit“. Und im katholischen Gotteslob suche ich das Stichwort vergeblich. Dabei verbringt der Mensch doch nicht erst im 21. Jahrhundert einen Großteil seiner Zeit mit Arbeiten: Mit Erwerbsarbeit, Care-Arbeit, Hausarbeit, Erziehungsarbeit. Und es gibt sogar eine eigene protestantische Arbeitsethik. Vor allem in den auf Calvin zurückgehenden Kirchen der Reformation wird da Erfolg im Beruf auch als Zeichen göttlicher Gnade und Zuwendung verstanden. Etwas davon klingt auch in diesem Lied an:
Gott ist’s, der das Vermögen schafft, was Gutes zu vollbringen;
Er gibt uns Segen, Mut und Kraft und lässt das Werk gelingen;
Ist er mit uns und sein Gedeihn, so muss der Zug gesegnet sein,
dass wir die Fülle haben.
Lebens-Fülle wird heute aber vermehrt in den Zeiten gesucht, die nicht der Arbeit gewidmet sind. In der Generation meiner Kinder ist es recht selbstverständlich, sich auch nach einem langen Studium nicht mit vollem Elan ins Arbeitsleben zu stürzen. Viele jungen Menschen wollen keinen 100% Job annehmen, um möglichst schnell Karriere zu machen, sondern lieber ihre Zeit mit anderen sinnvollen Dingen füllen: Sie möchten Zeit mit anderen verbringen, Zeit für eigene Interessen haben, Zeit zum Entspannen und ja, auch Zeit für ehrenamtliches gesellschaftliches Engagement. Denn die eigene Arbeit soll auch denen zugutekommen, die mit wirtschaftlichem Erfolg nicht gesegnet sind – auch davon singt unser Lied:
Wer erst nach Gottes Reiche tracht‘ und bleibt auf seinen Wegen,
der wird von ihm gar reich gemacht durch seinen milden Segen.
Da wird der Fromme froh und satt, dass er von seiner Arbeit hat
auch Armen Brot zu geben.
Wenn also ab sofort wieder überall im Land fleißig in die Hände gespuckt wird, dann wünsche ich Ihnen, dass sich dadurch nicht nur das Bruttosozialprodukt steigert, sondern dass Sie Freude haben an ihrer Arbeit und Segen erfahren:
Drum komm, Herr Jesu, stärke mich, hilf mir in meinen Werken,
lass du mit deiner Gnade dich bei meiner Arbeit merken;
gib dein Gedeihen selbst dazu, dass ich in allem, was ich tu,
ererbe deinen Segen.
Fangen Sie es morgen in Gottes Namen gut an!
-------------------------------
Musikangaben:
Text: Salomo Liscow (vor 1672), 1674
Melodie: Johann Crüger (1653)
Aufnahme: Detlev Korsen am 27.09.2018 in der St. Johannis-Kirche in Verden an der Aller(Youtube)
SWR1 Begegnungen
Martina Steinbrecher, evangelische Kirche, trifft: Mariesophie Magnusson. Die 35jährige Pfarrerin aus Nassau ist schwanger mit Zwillingen. Seither wünschen viele Leute ihr nur das Beste. Was sie an dem oft geäußerten Satz „Hauptsache gesund!“ nicht mag und was stattdessen ihre Hauptsache im Leben ist, davon erzählt sie in den SWR1 Begegnungen.
Teil 1
… und Mariesophie Magnusson. Die 35jährige ist seit vier Jahren Pfarrerin im schönen Nassau an der Lahn. Und sie ist zum ersten Mal schwanger. Mit Zwillingen. Ich habe sie gefragt, was die Nachricht, dass es gleich zwei auf einmal sind, mit ihr gemacht hat.
Also ich hab mich ehrlich gesagt direkt gefreut. Die Frauenärztin hat es auch sehr, sehr trocken mir mitgeteilt: O, das sind zwei, und im ersten Moment sind mir schon die Tränchen in die Augen geschossen. Ich fand es eine wunderbare Nachricht.
Zwillingsschwangerschaften werden in Deutschland direkt als Risikoschwangerschaften eingestuft. Und wer mit 35 zum ersten Mal schwanger ist, hat ein zusätzliches Risiko- Kreuz im Mutterpass. Mariesophie Magnusson nimmt diese Risiken ernst und nutzt die Möglichkeiten pränataler Vorsorge. Sie freut sich zum Beispiel, die Entwicklung ihrer Kinder im Ultraschall beobachten zu können.
Ich habe auch den Bluttest machen lassen, wo die Trisomien untersucht werden, einfach auch so mit dem Gedanken, ich würde mich dann gern darauf einstellen. Sollten die Kinder jetzt Trisomien haben, lese ich mir dann vielleicht ein bisschen Literatur an. Dann kann man sich schon mal mit dem Thema beschäftigen, wie es ist, ein Kind zu erziehen, mit einem Kind zu leben, das Trisomie hat.
Die Trisomie 21, auch Down-Syndrom genannt, ist ein sogenannter Gendefekt. Die davon betroffenen Kinder kommen mit unterschiedlich stark ausgeprägten Behinderungen zur Welt. Mariesophie Magnusson ist das nicht fremd. Sie ist mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Und ihr zwei Jahre älterer Bruder ist auch Träger des Down-Syndroms.
Damit war das für mich direkt eine relativ normale Geschichte, mit einem behinderten Menschen zusammenzuleben und mit ihm dieselben Dinge zu erleben, die man mit den anderen Geschwistern auch erlebt. Wie zufrieden wir sind, also wer welche Lebenszufriedenheit hat unter unseren Geschwistern, hängt nicht davon ab, wer von uns eine Behinderung hat oder nicht. Und ich denke, es ist am Ende ja eine Illusion, dass es Menschen gibt, die komplett gesund sind und auch mit dem Thema Krankheit nie in Berührung kommen werden.
Deshalb stört es sie auch, wenn bei den Vorsorgegesprächen mögliche Behinderungen oft in einem Atemzug mit der Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs genannt werden.
… dass man nicht sagt, machen Sie doch die Untersuchung, dann können Sie sich auf dies oder das vorbereiten, sondern dass diese Frage nach Schwangerschaftsabbruch mit diesen Untersuchungen immer direkt gekoppelt ist inhaltlich.
„Hauptsache gesund!“ Diesen Satz hört Mariesophie Magnusson, seit sie schwanger ist, dauernd. Was Sie daran nachdenklich stimmt und was für Sie die Hauptsache ist, davon gleich mehr.
Teil 2
Mariesophie Magnusson ist mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Einer ihrer Brüder hat das Down-Syndrom. Jetzt ist sie selbst mit Zwillingen schwanger und sieht sich ständig mit dem Satz konfrontiert „Hauptsache gesund!“ Das hat sie ins Nachdenken gebracht.
Also, ich merke das bei diesem Satz, dass er mich so richtig körperlich manchmal trifft. Ich lebe selber mit einer Diagnose, ich nehme jeden Tag Medikamente ein. Und wenn ich dann den Satz höre, Hauptsache gesund, klingt bei mir immer direkt mit: Was, wenn nicht? Was ist dann? Ist dann weniger Grund zur Freude? Ist das Leben dann weniger wert oder das Kind?
Den Wunsch, ein gesundes Kind zu bekommen, findet auch Mariesophie Magnusson nachvollziehbar. Und es gibt ja auch wirklich Behinderungen, die Eltern und Kindern bis an die Grenzen der Kräfte das Äußerste abverlangen.
Es ist schon ein Faktor, der das Leben beeinflussen kann und der auch, glaube ich, Aufmerksamkeit braucht oder eben Solidarität, Zusammenhalt, Menschen, die Eltern unterstützen, die Kinder zu pflegen haben, das ist schon auch schon wichtig; ja, das will ich nicht kleinreden.
Die Entscheidung für oder gegen ein Kind liegt heute ganz bei den Eltern, in vielen Fällen sogar allein bei der Mutter. Ihr Recht und ihre individuellen Lebensumstände werden großgeschrieben. Mariesophie Magnusson wünscht sich aber, dass die Gesellschaft hier auch Verantwortung übernimmt. Sie möchte ein gesellschaftliches Klima, in dem auch Kinder mit Behinderungen willkommen sind und wo es nicht als exotisch angesehen wird, wenn Eltern sich für das Leben mit einem behinderten Kind entscheiden.
Ich glaube, dass es uns als Gesellschaft guttun würde, wenn wir einfach da vom Normalfall ausgehen, dass wir in bestimmten Graduierungen alle mit dem Thema Krankheit zu tun haben und uns da gegenseitig mit Solidarität begegnen. Und das würde ich mir für meine Kinder auch wünschen. Sie sind wertvoll. Sie sind ihren Eltern willkommen und von ihren Eltern geliebt. Sie sind aber auch in der Gesellschaft willkommen und bekommen nicht zu viele Barrieren in den Weg gestellt.
„Hauptsache gesund!“ Diesem verständlichen Wunsch würde Mariesophie Magnusson gerne noch einen zweiten an die Seite stellen:
Hauptsache geliebt. Das ist für mich die Hauptsache, dass Menschen spüren, sie sind geliebt und sie sind willkommen.
Ihre Schwangerschaft hat Mariesophie Magnusson in diesem Gedanken bestärkt. Was sie als Christin glaubt und als Pfarrerin weitergibt, hat sie sozusagen am eigenen Leib erfahren:
Dieses Leben habe ich jetzt nicht hervorgezaubert, das kommt woanders her. Das spürt man sehr existentiell, wenn es im eigenen Bauch geschieht, dass da Leben entsteht und man diese Unverfügbarkeit auch nochmal ganz anders spürt. Und auch diese Hoffnung, auch der Glaube daran, dass dieses Leben geborgen ist, egal, was damit passiert.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40376SWR1 3vor8
Es ist jetzt 35 Jahre her, dass ich zum ersten und bislang einzigen Mal in Israel gewesen bin. Für eine Theologiestudentin war eine Reise ins Land der Bibel praktisch Pflicht. In den 80er Jahren hat an deutschen Fakultäten der Dialog zwischen Juden und Christen geblüht; die kritische Auseinandersetzung mit dem antijudaistischen Erbe christlicher Theologie befand sich auf einem Höhepunkt. „Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“ Dieser Satz des biblischen Propheten Sacharja gibt die damalige Stimmung sehr gut wieder. Viele Christen waren bereit, diesen Zipfel vom Gewand zu ergreifen und sich mitziehen zu lassen. Ein jüdischer Mann – nicht in der Rolle des Verfolgten, sondern als Vorbild und Wegbereiter für ein friedliches Zusammenleben der Völker in Jerusalem. Ausgerechnet in Jerusalem!
Auf meiner Israelreise im Jahr 1989 wurde ich allerdings mit einer ganz anderen Wirklichkeit konfrontiert. Es war zur Zeit der ersten Intifada. Palästinenser hatten begonnen, ihre Rechte einzuklagen und sich gegen Repressalien zu wehren. Die Lage im Land war angespannt; das Reisen gefährlich. Und wie viele Chancen auf Frieden und Versöhnung sind seither verpasst worden! Heute ist die Lage im Nahen Osten verzweifelter und aussichtsloser denn je, und wahrscheinlich weiß nicht einmal Gott selber, wie sie zu lösen sein könnte. Aber sein Prophet stellt uns das Bild heute, am Israelsonntag 2024, erneut vor Augen: „Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“ Ach, Gott, es braucht ja nur den Zipfel eines Gewandes. Häng ihn uns doch in den Weg!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40443SWR Kultur Lied zum Sonntag
„Here comes the sun“, liebe Hörerinnen und Hörer! Aber anders als in dem bekannten Beatles-Song bringt sie weder sommerliche Leichtigkeit noch rückt sie wie ein Morgenchoral die Schönheit der Schöpfung ins rechte Licht. Sie geht auf wie ein Fanfarenstoß. In nur zwei langgezogenen Quarten durchmisst sie den kompletten Tonraum einer Oktav. Schon steht sie am Himmel. Und lässt ihre Botschaft leuchten:
Sonne der Gerechtigkeit,
gehe auf zu unsrer Zeit.
Brich in deiner Kirche an,
dass die Welt es sehen kann.
Erbarm dich, Herr!
Dieses Lied ist ein Protestsong mit einer klaren politischen Botschaft: Gerechtigkeit soll die Welt regieren wie die Sonne den Sommerhimmel. Und obwohl die Textbausteine einzelner Strophen bis weit ins 18. Jahrhundert zurückreichen, war der Choral eins der Lieblingslieder des demokratischen Aufbruchs im letzten Jahrzehnt der DDR. Die Zeile „zu unsrer Zeit“ hat’s möglich gemacht. Wer aber meint, eine politisierte Kirche richte hier vom hohen Ross Appelle an die Welt, täuscht sich. Selbstkritisch ist der Ton des Liedes:
Weck die tote Christenheit
aus dem Schlaf der Sicherheit,
dass sie deine Stimme hört,
sich zu deinem Wort bekehrt.
Erbarm dich, Herr!
Was für eine mitleidlose Selbstanalyse! Die Christenheit vorgeführt als schläfrige Masse, in selbstgefällige Sicherheiten gewiegt; nichts zu spüren von Aufbruch, von Geistesgegenwart und Tatendrang. In diesem Weckruf schwingt für mich auch die Klage vieler Opfer von sexualisierter Gewalt mit. Ihr Leiden an der Trägheit und Schlaffheit einer starren, sturen Institution. Und die Frage: Kirche, wann hörst du endlich die Alarmglocken schrillen? Wann wachst, wann stehst du auf? Wie oft muss es noch gesungen werden?
Sonne der Gerechtigkeit,
gehe auf zu unsrer Zeit!
Brich in deiner Kirche an,
dass die Welt es sehen kann.
Erbarm dich, Herr!
„Gott lässt seine Sonne aufgehen über bösen und über guten Menschen. Und er lässt es regnen auf gerechte und auf ungerechte Menschen“, sagt Jesus in der Bergpredigt. Und fordert uns auf, endlich zu handeln. Die Welt zu überraschen mit dem, wozu wir in seiner Nachfolge fähig wären. Dreizehn Imperative zähle ich in den sieben Strophen des Liedes. Und was wäre das am Ende für eine Kirche, die in ihrem Handeln ein Vorbild abgäbe? In ihrem Umgang mit der eigenen Schuldgeschichte. In ihrem Einsatz für Gerechtigkeit. Was es dafür braucht, weiß das Lied auch, und bittet und fleht:
Gib den Boten Kraft und Mut,
Glauben, Hoffnung, Liebesglut.
Und lass reiche Frucht aufgehn,
wo sie unter Tränen sä‘n.
Erbarm dich, Herr!
Sonnige Zeiten wünscht ihnen in diesem Sinn
Martina Steinbrecher aus Baden von der evangelischen Kirche
Musikangaben:
Text: Christian David: Strophe 1 (1728)
Christian Gottlob Barth: Strophe 2+4+5 (1827)
Christian Nehring: Strophe 3+7 (1704)
Kompiliert und mit einer einheitlichen Leise versehen von Otto Riethmüller (1932)
Melodie: Böhmen 1467, Nürnberg 1556, Geistlich Böhmische Brüder (1566)
Aufnahme: Christian-Markus Raiser (Klavier), CoroPiccolo Karlsruhe (2017)
SWR Kultur Wort zum Tag
Der reformierte Pfarrer Joachim Neander hat sich zu Lebzeiten wohl nicht träumen lassen, dass das schluchtartige Tal des Flüsschens Düssel einmal seinen Namen tragen würde. Er hat dort in den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts sonntags Gottesdienste im Grünen gefeiert und unter der Woche ausgedehnte Spaziergänge gemacht. Das Neandertal liegt heute in Nordrhein-Westfalen, etwa zehn Kilometer östlich von Düsseldorf. Berühmt geworden ist es aber nicht für den Dichter des Liedes „Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren“, sondern für einen urzeitlichen Bewohner, dessen fossile Überreste man dort im Jahr 1856 gefunden hat: den Neandertaler. Diesem urmenschlichen Verwandten haftet kein besonders gutes Image an. Er gilt als primitiv und grobschlächtig. Wenig Hirn, viele Muckis.
Dieses Urteil muss jetzt jedoch gründlich revidiert werden. In einer spanischen Höhle haben Forscher nämlich Knöchelchen aus dem Innenohr eines etwa sechsjährigen Kindes gefunden. Und die weisen Merkmale der Genmutation Trisomie 21 auf. Ein Neandertaler mit Down-Syndrom. Die eigentliche Sensation besteht aber darin: Dieses behinderte Kind konnte nur überleben, wenn es liebevoll versorgt wurde. Denn vor 55 000 Jahren herrschten an der spanischen Mittelmeerküste eisige Temperaturen und widrige Bedingungen für den Schutz behinderter Artgenossen.
Dass der kleine Junge trotzdem sechs Jahre alt wurde, weist darauf hin, dass er in einer fürsorglichen Gemeinschaft lebte. In dem betreffenden Artikel steht dazu der Satz: „Nächstenliebe gab es also schon einige Zehntausend Jahre vor Erfindung des Christentums.“ Ja, natürlich, denke ich. Denn Nächstenliebe ist eine im wahrsten Sinne des Wortes urmenschliche Eigenschaft. Nicht Jesus hat sie erfunden. Auch der jüdische Glaube weiß, dass die vorbehaltlose Zuwendung zu den Mitmenschen zum Fundament einer starken Gemeinschaft gehört. Nicht das alleinige Recht des Stärkeren hilft zum Überleben, sondern die Frage, wie mit den Schwächsten umgegangen wird. Um dieses Fundament zu stärken, hat Jesus der Nächstenliebe zwei Partnerinnen an die Seite gestellt, die Gottesliebe und die Selbstliebe. Jede einzelne ist schon stark für sich, aber wenn sie zusammen an einem Strang ziehen, sind sie unschlagbar.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40281SWR Kultur Wort zum Tag
Eine Konferenz in Berlin. Neben dem Tagungsprogramm hab ich mir viel vorgenommen, will jede freie Minute optimal ausnutzen. Wenn man schon mal in der Bundeshauptstadt ist! Aber die Schlange vor dem Museum ist ewig lang, und ehrlich gesagt, bin ich doch auch ziemlich müde. Also gebe ich mein ehrgeiziges Kulturprogramm auf und lasse mich einfach so durch die Straßen treiben. Und finde mich plötzlich im Grünen wieder.
Ich bin überrascht: Da wächst ein Roggenfeld mitten in der Stadt. Ein Straßenschild hilft mir: „Bernauer Straße.“ Ja, hier stand früher die Mauer, hier verlief der Todesstreifen, der mit Gewalt den Lebenszyklus einer Millionenstadt abwürgen sollte. Die aufsteigenden Bilder schnüren mir die Kehle zu. Mitten im sommerlichen Roggenfeld steht die Kapelle der Versöhnung. Ein schlichter Stampflehmbau aus Holz und Lehm, zu zwei Dritteln aus Bruchstücken der Vorgängerkirche gebaut, die 1985 gesprengt worden ist.
Spontan folge ich dem Impuls, die raue Wand zu berühren. Die Verletzungen zu spüren, die diesem Material eingeschrieben sind. Und ihnen gleichzeitig die Hand aufzulegen wie eine alte Heilerin. Später erzählt mir der Pfarrer, der hier arbeitet, dass viele Besucherinnen das tun. Berühren, um berührt zu werden. Anfassen, was sonst nur schwer zu begreifen ist. Jeden Mittag wird hier in vielen Sprachen das Vaterunser gebetet. Seit zwei Jahren auch auf Russisch und Ukrainisch. Jeden Tag.
Ich setze mich auf einen Stuhl und lasse den kargen Raum auf mich wirken. Die Kantorin erzählt stolz von der kleinen Orgel auf der Empore: Vier Register rufen mit je landestypischen Klangfarben die ehemaligen Besatzungsmächte in Erinnerung: Frankreich, Großbritannien, die USA und Russland. Was für ein kraftvoller Ort! Aus dem Roggen draußen wird tatsächlich Brot gebacken. Und Saatgut in 13 Länder verschickt, die einmal hinter dem Eisernen Vorhang lagen. Hinter der Kapelle liegt immer noch ein Stück NiemandsLand. Aber es ist kein Todesstreifen mehr, sondern ein Garten mitten in der Stadt. Er gehört niemandem, ist für alle da. Wer will, kann hier Gemüse anbauen. Oder Rosen züchten. Die verletzte Seele baumeln lassen. Und spüren, wie ein großes Wort vorsichtig Wirklichkeit wird: So ist Versöhnung.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40280SWR Kultur Wort zum Tag
Sie trägt einen roten Mantel und roten Lippenstift. Das Bundesverdienstkreuz erster Klasse und der Verdienstorden des Landes Berlin sitzen ihr wie kleine Schmetterlinge auf dem umgelegten Mantelkragen. Sie ist eine zierliche Frau mit silbergrauem Haar. Ihr Alter versteckt sie nicht. Sie ist 102 Jahre alt. Das stärkste Leuchten geht von ihrem Gesicht aus.
Margot Friedländer ist gerade auf dem Titelbild der deutschen Vogue abgebildet. Mit diesem fantastischen Foto ist für sie ein 90 Jahre alter Traum in Erfüllung gegangen. Denn schon mit 15 wollte sie Schneiderin und Modedesignerin werden. Mode- und Reklamezeichnen hat sie dafür gelernt. Und an den Wochenenden im Café Wien am Berliner Kurfürstendamm gesessen und die elegant gekleideten Frauen bewundert. Das war 1936. Sie sagt: „Ich hatte große Pläne. Ich wollte selbst Kleider entwerfen.“
Doch dann kam alles ganz anders. Die Nationalsozialisten setzen immer mehr Repressalien gegen ihre jüdischen Mitbürgerinnen durch. Margot ist Jüdin. Zerstört werden nicht nur ihre Träume, sondern die ganze Existenz. Mutter und Bruder ermordet. Sie selbst im KZ Theresienstadt inhaftiert. In diesem Lager, das auf Vernichtung ausgerichtet ist, lernt sie einen Mithäftling kennen und lieben. Gleich nach der geglückten Befreiung wandern die beiden in die USA aus. Als ihr Mann dort nach 64 Jahren Zweisamkeit stirbt, will sie, damals 88 Jahre alt, unbedingt nach Deutschland zurück. Und lebt jetzt schon seit 14 Jahren wieder in ihrer Heimatstadt Berlin. In dieser Zeit hat sie über tausend Besuche in Schulen gemacht. Erzählt von ihren Erfahrungen in Nazideutschland und von den Gefahren des gegenwärtigen Antisemitismus. Ihre Botschaft ist so schlicht wie ergreifend: „Schaut nicht auf das, was euch trennt. Schaut auf das, was euch verbindet. Seid Menschen. Seid vernünftig.“
So spricht eine Frau, der alles genommen wurde, ohne jede Verbitterung. Ihr Blick auf die Welt ist versöhnlich, voller Weisheit und Wärme. In jedem Wort, das sie sagt, steckt positive Energie. „Sagt Eure Meinung! Seid wachsam! Seid Menschen!" Ich wünsche ihr, dass sie noch lange leuchten darf. Rot. Wie die Liebe.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40279SWR Kultur Lied zum Sonntag
Ein echter Brunnen als Taufstein – ich wünsche mir eine Kirche, in der es das gibt. Einen Brunnen, der durch viele Erd- und Gesteinsschichten hindurch bis zum Grundwasser reicht. Über die Verbindung mit Gott als Lebensquelle müsste nicht lange gepredigt werden, denn sie wäre einfach da. Jeder Täufling käme damit in Berührung. Und auch jeder andere Mensch, der es wieder einmal spüren möchte. Abends säßen wir zusammen auf dem Taufstein-Brunnenrand und erzählten uns Geschichten aus unserem Leben. Und manchmal sängen wir auch ein Lied:
O Lebensbrünnlein tief und groß, entsprungen aus des Vaters Schoß,
ein wahrer Gott ohn Ende.
Der du dich uns hast offenbart in unsrer Menschheit, rein und zart,
dein lieb Herz zu uns wende.
Denn wie ein Hirsch nach frischer Quell, so schreit zu dir mein arme Seel
aus dieser Welt Elende.
„Wie ein Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu Dir. Meine Seele hat Gott-Durst, Durst nach dem lebendigen Gott.“ So heißt es im 42. Psalm. Ein großartiges Bild für die Sehnsucht, die auch mich manchmal befällt: Sehnsucht nach dem, was meinem Glauben Nahrung gibt. Das alte Lied aus dem Jahr 1618 hat eine gut protestantische Antwort darauf, was mich geistlich satt machen kann. Nämlich die belebenden und aufrichtenden Worte, die Jesus gesprochen hat. Im O-Ton: „Mit seinem Evangelio macht er mein Herz im Leib so froh, dass ich sein nicht vergesse.“
O Lebensbrünnlein, durch dein Wort, hast du dich uns an allem Ort
erfüllt mit reichen Gaben,
voll Wahrheit und göttlicher Gnad, die uns erschienen früh und spat,
das matte Herz zu laben.
O frischer Quell, o Brünnelein, erquick und lass die Seele mein
in dir das Leben haben.
Und wenn wir uns dann mit solchen Lebensworten gestärkt haben und so voll sind, dass wir nicht mal mehr papp sagen können, hält das Lied in seiner letzten Strophe auch noch eine kleine geistliche Verdauungsübung für uns bereit. Der Dichter Johannes Mühlmann rät: „Hüpf auf, mein Herz, spring, tanz und sing, in deinem Gott sei guter Ding, der Himmel steht dir offen. Drum sei getrost und glaube fest, dass du noch hast das Allerbest in jener Welt zu hoffen.“ Und der Chor spinnt diesen tröstlichen Gedanken für uns noch ein bisschen fort:
Gott selbst wird sein mein Speis und Trank, mein Ruhm, mein Lied, mein Lobgesang,
mein Lust und Wohlgefallen,
mein Reichtum, Zierd und werte Kron, mein Klarheit, Licht und helle Sonn,
in ewger Freud zu wallen;
ja, dass ich’s sag mit einem Wort, was mir Gott wird bescheren dort:
„Er wird sein alls in allen.“
--------------
Musikangaben:
Text: Johannes Mühlmann (1618)
Melodie: Görlitz 1587
Aufnahme: Ruhr-Kantorei
Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
Sein Geburtstag ist nicht bekannt. Auch das Geburtsjahr nur so ungefähr: Um 1370 soll er auf die Welt gekommen sein. Sein Todestag aber steht fest. Am 6. Juli 1415 ist der Theologe Jan Hus auf einem Scheiterhaufen in Konstanz am Bodensee verbrannt worden. Ein schrecklicher Tod und ein trüber Gedenktag. Ähnlich wie hundert Jahre später Martin Luther hat auch Jan Hus den Amts- und Machtmissbrauch in der Kirche seiner Zeit scharf kritisiert. Den drei Päpsten, die sich damals um die Herrschaft gestritten haben, hat er allen die Gefolgschaft verweigert, stattdessen die Bibel in seine tschechische Muttersprache übersetzt. Weil er so verständlich und lebensnah erzählen konnte, war er als Prediger sehr geschätzt. Für seine kritische und eigenständige Haltung ist er damals angeklagt worden. Widerrufen, wovon er im Innersten überzeugt war, wollte er nicht. Und das hat er mit seinem Leben bezahlt.
Das alles ist furchtbar lange her und scheint einer völlig anderen Zeit anzugehören. Die Todesstrafe ist abgeschafft; kein Mensch wird heute mehr öffentlich hingerichtet. Jedenfalls nicht in Konstanz. Freie Meinungsäußerung gilt auch in Glaubensdingen; die deutsche Verfassung garantiert eine positive Religionsfreiheit. Zwischen unterschiedlichen Konfessionen und Religionen wird in der Öffentlichkeit ein respektvoller Umgang zelebriert. Manchmal frage ich mich allerdings, ob sich die Schauplätze für Hinrichtungen nicht einfach nur verlagert haben. Weg von den Marktplätzen in die virtuellen Welten des Netzes. In den Kommentarspalten von sozialen Medien herrscht hie und da ein Tonfall, der mich sprachlos macht. Da wird nicht lange gefackelt, sondern verbale Brandsätze gezündet und kurzer Prozess gemacht mit Menschen und Meinungen. Eine Freundin hat mir gerade gesagt, dass sie sich wundert, warum so vieles davon einfach unwidersprochen stehen bleibt. Denn wer schweigt, scheint zuzustimmen. Da habe ich mich angesprochen gefühlt. Ich weiß: Viele sagen, sich in solche Diskussionen einzumischen, bringt eh nichts. Aber vielleicht ist ein klar formulierter Widerspruch gegen Hetze und Shitstorms es ja doch wert für einen einzelnen, der doch ins Nachdenken kommt und sich auf eine echte Diskussion einlässt. Oder zumindest für die schweigende Menge, der damit signalisiert wird: Ihr seid nicht allein.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40191Zeige Beiträge 1 bis 10 von 212 »