SWR4 Abendgedanken BW

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Zweimal hat sich mein Freund mit seiner Frau die Vorstellung der Passionsspiele letztes Jahr in Oberammergau angeschaut. Trotz der hohen Preise, der Kälte und der Länge der Vorstellungen war er nicht davon abzubringen. Vor allem habe ihn beeindruckt, wie überzeugend die leidenden Personen ihren Zustand dargestellt haben. Der Christus, der zitternd und bebend am Kreuz hängt, kein Held, seine Freunde, die mitleiden und  jammern. Das ist wirklich das Leben, sagte mein Freund, wenn man schreien und reden muss, um nicht  gleichgültig zu werden gegen das Leid, das einen zu zerstören droht.
In seinem Beruf erlebt er es ganz anders. Mein Freund ist in der Werbung tätig. Was da angeboten wird, ist schick und von strahlendem Lächeln begleitet. Bei der Werbung ist alles machbar und schmerzfrei. Bittere Niederlagen und Leiden werden ausgeblendet. Dazu gehört,  dass man nicht darüber redet, wenn der Nachbar Krebs hat oder in der Familie gegenüber die Arbeitslosigkeit eingezogen ist. Wer nichts zu lachen hat, gilt als Versager. Deshalb hält man es für wichtig durchzuhalten, tapfer zu sein und nichts von dem eigenen Schmerz und Kummer preiszugeben.
Ganz anders der Christus, wie man ihn bei den Passionsspielen in Oberammergau erleben kann, sagt mein Freund. Der ist mit seinem Zittern  und Beben ganz nahe bei den Menschen. Genauso hat Jesus Christus nach den Erzählungen in der Bibel sein Schicksal tatsächlich durchlebt Und das bringt ihn mir ganz nah: in Glück und Freude, in Erschrecken und Entsetzen, in Wut und Zorn über die eigenen Schwächen und darüber, dass ich nicht so  funktionieren kann wie die erfolgreichen Werbefiguren. Ich lerne am Beispiel Jesu, dass das alles um ganzen Leben gehört: allein zu sein mit seinem Kummer und seinen Sorgen oder sie mit anderen zu teilen. Nicht nur tapfer sein zu wollen und zu funktionieren, sondern auch vor anderen meine Wut und meinen Schmerz auszudrücken. Es ist manchmal  nötig zu schreien, zu reden über das Leiden, damit man nicht gleichgültig wird gegenüber Schmerz und Leid. Jesus hat das auch getan.
Wenn ich in einer Gesellschaft  lebe, in der alles funktionieren muss und in der ich danach bewertet werde, dann muss ich ersticken. Denn zum menschlichen Leben gehören Gefühle und die Energie, sich nicht nur nach vorgegebenen Normen zu richten. Gerade wer auch Schwächen zeigt, ist ein ganzer Mensch. An Jesus Christus kann man das sehen. In Oberammergau bei den Passionsspielen, auf vielen Gemälden großer Künstler. Und die Bibel erzählt davon.

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