SWR4 Abendgedanken BW

SWR4 Abendgedanken BW

„Wie geht's ?" so fängt am einfachsten eine Unterhaltung an. Eine ehrliche Antwort wird aber meistens gar nicht erwartet. Oder wenn die Antwort lautet: „Mir geht's nicht gut!", dann wird sie nichts ernst genommen.
Das ist wie bei den zwei Raben, die auf einer Stromleitung sitzen. Sie schweigen sich an. Sagt der eine zum anderen: „Frag mich mal, wie es mir geht." Schweigen. Und wieder: „Frag mich doch bitte, wie es mir geht." Nichts. Keine Reaktion. Ein drittes Mal: „Nun frag mich doch endlich, wie es mir geht." Da  bewegt sich der zweite Rabe und erkundigt sich: „Na, wie gehts dir denn?" Der erste antwortet: „Ach, frag mich nicht."
Dieser Witz hat einen ernsten Kern. Er zeigt, wie viele Fragen in diesem Gesprächsanfang stecken. Meint es ein anderer wirklich ernst, wenn er mich nach meinem Ergehen fragt? Und will ich das wirklich ehrlich hören, wenn ich einen anderen frage, wie es ihm geht? Das könnte mich ja auf einmal viel Zeit und Mitfühlen kosten und ich müsste mir vielleicht vieles anhören, was ich nicht will. Dabei will ich doch den anderen ernst nehmen, weil ich auch von anderen  erwarte, dass sie mich ernst nehmen.
Zunächst ist es ja ganz leicht, mit anderen in Kontakt zu kommen mit der Frage: Wie geht's? Aber dann merke ich, dass dahinter jeder weitere Schritt mühsam werden kann. Denn wenn sich jemand öffnet und zu erzählen beginnt, dann muss ich Zeit und Interesse einsetzen. Aber gerade damit beginnt Vertrauen, gerade damit beginnt eine Verbindung, in der man sich liebevoll umeinander bemüht und darum, andere kennenzulernen  und sie zu verstehen. Etwa wenn ein wildfremder Mensch, der mich nicht kennt, sich an der Bar oder im Zug seinen Kummer von der Seele redet, dann ist dies ein besonderes Zeichen von Zutrauen.
Ich glaube, man kann lernen, hinter der Frage, wie es geht, zu merken, dass mir der andere etwas mitteilen will, was ihm wichtig ist. Da führt der harmlose Türöffner zu einem längeren Gespräch, bei dem ich ein wachsames Gefühl und ein offenes Ohr brauche. „Wie geht's?" das ist ein harmloser Türöffner. Kann ich weitergehen oder belasse ich es bei einer ebenso harmlosen Antwort? Diese Entscheidung muss ich jedesmal treffen, wenn mich einer so fragt. Sie fällt mir leichter, wenn ich den Menschen kenne, der mich fragt. Wenn ich ihm vertrauen kann und er mich kennt. Dann wird er weiter fragen oder sich zurückhalten, weil er mich kennt.
Solche Menschen brauche ich, so wie ich mich auch vertrauensvoll im Beten an Gott wenden kann, um ihm mein Herz auszuschütten. Weil ich weiß, dass ich ernst genommen werde und er mir zuhört.

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