SWR4 Abendgedanken BW

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Ich war sicher noch keine vier Jahre alt, da ist mir ein Engel erschienen. Kurz vor Weihnachten, da sah ich ihn draußen im Dunkeln vor dem Küchenfenster stehen.
Natürlich hat mir keiner geglaubt. Er war ja auch nicht mehr da, als ich ihn meiner Mutter zeigen wollte. Aber ich hatte ihn ganz deutlich gesehen.
Bei manchen Erinnerungen aus meiner Kindheit bin ich mir nicht so sicher, ob ich das selber erlebt habe, oder es so oft erzählt wurde, dass ich es zu meiner eigenen Erfahrung gemacht habe?
Aber bei dem Engel bin ich mir sicher. Er sah aus, wie eben Weihnachtsengel so aussehen. Er war nicht sehr groß, hatte langes blondes Haar und ausgebreitete Flügel, und er war von einem besonderen Licht umgeben. Vielleicht war es auch das Christkind, das ich mir damals so vorgestellt habe wie einen besonders schönen Engel, der die besonders wichtige Aufgabe hat, die Wünsche für Weihnachten in Empfang zu nehmen und für die Geschenke zu sorgen.
Irgendwie gehörten sie zur Familie:
Die Engel, die nachts unsichtbar um mein Bett standen, der Weihnachtsmann, das Christkind und auch der Osterhase und das Geburtstagsmännchen. Das übrigens hatte im Krieg ein Bein verloren und konnte deshalb nicht so sehr viel in seinem Rucksack transportieren.
Aber wie das so geht mit dem Älterwerden: irgendwann sind sie dann alle verschwunden, zumindest aus meinem Innern. Einige sind dann - verändert - wieder gekommen, wie Nikolaus, der Bischof von Myra. Und vor allem: Das Jesuskind in der Krippe und im erbärmlichen Stall hat das Christkind verdrängt und ist an seine Stelle getreten.
Und die Engel meiner Kindheit? Sie waren ein paar Jahre einfach da und schön, ihre Nähe war beruhigend, aber sie hatten mir nichts zu sagen.
Die Engel, die mir später begegnet sind, waren nicht immer auf den ersten Blick als Engel, als Boten Gottes zu erkennen, aber sie hatten eine Botschaft für mich. Oft, ohne dass sie selbst sich dessen bewusst waren.
„Willst du etwa Pfarrer werden?" Diese verwunderte Frage eines Klassenkameraden war so eine Botschaft, die meinem Leben eine entscheidende Richtung gegeben hat.
Andere Botschaften steckten in Fragen wie: „Willst du das wirklich? Ich an deiner Stellewürde mir das noch einmal überlegen!" oder auch: „Wär' das nichts für Sie?"
Einige dieser Botschaften habe ich bedacht und sie haben mich zu wichtigen Entscheidungen herausgefordert oder vor Dummheiten bewahrt. Andere habe ich vermutlich überhört.
Manche Engel, die mir solche Botschaften gebracht haben, wären wahrscheinlich ganz überrascht, wenn ich ihnen im Rückblick sagen würde: Da hat dich der Himmel geschickt.

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