SWR4 Abendgedanken BW

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Umkehren ist kein Scheitern, sagt die Extrembergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner. Alle Zeitungen hatten gemeldet: Kaltenbrunner scheitert schon wieder am K 2 im Himalaya". Aber sie sagt: Vermeintliches Scheitern ist immer auch ein Sieg über die Versuchung, das Schicksal herauszufordern.

Als ich das las, dachte ich, was für das Umkehren beim Bergsteigen gilt, könnte auch bei einem Rücktritt in der Politik richtig sein.
Ein Rücktritt muss kein Scheitern sein. Ein Rücktritt kann auch ein Sieg des Gewissens sein über die eigene Machtversessenheit.

Das zeigt mir zum Beispiel der erste Rücktritt, den es in der Bundesrepublik gegeben hat. Mein Kalender hat mich nämlich daran erinnert, dass morgen vor 60 Jahren, also am 9. Oktober 1950, als die Bundesrepublik noch ganz jung war, der erste Bundesminister zurückgetreten ist.
Das hat seinem weitern Aufstieg wohl nicht geschadet. 16 Jahre später wurde er Bundesjustizminister und 1969 Bundespräsident: Gustav Heinemann.

Mit seinem Rücktritt war es so:
Konrad Adenauer hatte Gustav Heinemann in sein Kabinett geholt. Er brauchte einen prominenten Evangelischen. Heinemann war damals Präsident der Synode der Evangelischen Kirche von Deutschland, und er war in der Nazizeit ein wichtiges Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen. Aber als Adenauer heimlich die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik betrieb und dabei das Kabinett austrickste, folgte Heinemann der Stimme seines Gewissens und trat aus Protest zurück.
So war er: mit großem Ernst Politiker, aber er wusste, dass Politik nicht das Wichtigste ist.
An ihm kann man sehen: Ein Rücktritt muss kein Scheitern sein. Ein Rücktritt kann auch ein Sieg des Gewissens sein oder ein Sieg der Vernunft, die weiß, dass es gefährlich sein kann, wenn man ein Ziel um jeden Preis erreichen will. Oder ein Sieg der Einsicht, dass man nicht unentbehrlich ist.

Das hat mich an Gustav Heinemann besonders beeindruckt:
er blieb immer kritisch gegenüber der Macht und der eigenen Wichtigkeit.
Und er blieb kritisch auch gegenüber der eigenen Empörung, wenn man erfüllt ist von dem guten Gefühl, im Recht zu sein und sich berechtigt fühlt, ein Urteil über die anderen zu fällen. Er hat ein eindrückliches Bild geprägt:
Wer mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf andere zeigt, der deutet mit drei Fingern seiner Hand auf sich selbst.

Ich bin sicher, Gustav Heinemann hatte dabei Jesu Mahnung im Ohr:
Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem eigenen Auge?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=9173
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