SWR4 Abendgedanken RP

SWR4 Abendgedanken RP

Teil 1
Manchmal jault Nikie im Schlaf. Nikie ist sieben Jahre alt und ein besonderer Hund. Er wird als Therapiehund eingesetzt. Bei so genannten „Großschadenslagen” soll er den körperlich und seelisch stark belasteten Notfallhelfern das Leben und die Arbeit erleichtern. Die sind überzeugt, dass Nikie Außergewöhnliches leistet. Der Hund nehme den Einsatzkräften viel Druck und Stress ab, sagt sein Besitzer. Er weiß: „Es gibt einen besonderen Punkt bei jedem Menschen, an dem ein Tier ihn wieder zum Kind werden lässt”.
So kniet manch gestandener Einsatzhelfer vor Nikie und erzählt ihm, was ihm auf der Seele liegt. Sogar von Trennungen und gescheiterten Ehen erzählen die Helfer in den Einsatzpausen, von Kindheitserinnerungen und natürlich von all den schrecklichen Bildern, die sie bei den tagelangen Extremeinsätzen nicht aus dem Kopf bekommen.
Auch ein Therapiehund kann Stress nicht pausenlos aufnehmen, er muss ihn auch wieder abgeben können. Zum Ausgleich bekommt Nikie nach seinem Einsatz eine Entspannungsmassage und er wird gründlich untersucht. Mit dem Stress wird er offensichtlich gut fertig. Doch nach einem langen Tag, da kommt es schon mal vor, dass Nikie im Schlaf jault. Nicht nur als Zuhörer, sondern auch unter der Stressbelastung verhält sich Nikie ganz menschlich.
So ist das nämlich auch bei den menschlichen Helfern: Für sich allein hält das keiner auf Dauer aus, was er da erlebt. Man muss es sich von der Seele reden können, damit man darüber nicht körperlich und seelisch zu Schaden kommt.
Das Bild des harten Mannes, der mit „zwei Korn, zwei Bier“ auch den härtesten Einsatz bewältigt, gehört zum Glück der Vergangenheit an. Trotzdem gibt es bei Feuerwehr und Rettungsorganisationen einen erhöhten Krankenstand. Viele Einsatzhelfer müssen vorzeitig in den Ruhestand gehen. Der Dienst für die Gemeinschaft ist ihnen im wahrsten Sinn auf die Knochen und an die Nieren gegangen. Darum gibt es eine Notfallseelsorge nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Helfer. Dass sie von Seelsorgern wahrgenommen wird, will sagen: Wir brauchen Hilfe von außen, wenn wir Menschen helfen und dabei selbst Mensch bleiben wollen. Quellen außerhalb von uns selbst, denn sonst sind unsere eigenen Ressourcen irgendwann erschöpft. Wie wir füreinander einstehen und dabei sogar, wie Luther sagte, „füreinander zum Christus werden” können, darum geht es gleich nach der Musik

Teil II
Für die mit den Lasten des Lebens Beladenen gibt es berufsmäßige Helfer: für Ratlose gibt es Berater, für Kranke Ärzte, Schwestern und Pfleger, für alte Menschen Sozialarbeiter, für Zweifelnde und Bedrückte Seelsorgerinnen und Seelsorger. Wer an etwas zu tragen hat, ist dankbar, die Hilfe dieser Experten in Anspruch nehmen zu können.
Doch wie viele Schwestern, Pfleger, Pfarrer, Ärzte, ehrenamtlich Tätige können davon ein Lied singen, wie sehr sie als Helfer stark sein sollen – aber für die eigenen Belange finden sie kein Ohr.
Auch wir Seelsorger brauchen die gegenseitige Vergewisserung. Wer sich als Seelsorger auf Gott und die Menschen einlässt, muss damit rechnen, dass er mit der dunklen Seite einer ansteckenden Lebens- und Glaubensmüdigkeit in Kontakt kommen kann. Welche Seelsorgerin kann von sich sagen, sie kenne nicht auch Zeiten, wo ihr der Glaube wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt? Deshalb: heute kann ich dir Mut machen. Morgen bin ich vielleicht darauf angewiesen, dass du mir auf die Beine hilfst.
Professionelles Wissen, in langen Berufsjahren erworben und vertieft, bewahrt nicht immer davor, sprachlos und verzagt zu werden. Dann brauchen wir einen, der uns etwas sagt, das uns Mut macht. Martin Luther hat es einmal so beschrieben: einer kann dem andern „zum Christus werden”.
Wer andern hilft - ob hauptberuflich oder im Ehrenamt - braucht auch für sich einen Helfer, der ihm Gehör schenkt und bei dem er sich etwas von der Seele reden kann. Wie sonst können zum Beispiel Seelsorger den Belasteten ihre Last abnehmen und den Bekümmerten neue Lebensmöglichkeiten erschließen?
Da wird zunächst also der gute Zuhörer gebraucht. Jemand, der einen ausreden lässt und einen nicht gleich mit guten Ratschlägen mundtot macht.
Das wäre ja auch keine Hilfe, wenn da einer käme, viele Worte machte, aber sich gerade so heraushielte. ,,Wissen Sie, Sie müssen das so sehen...” Als ob es darum gehen kann, die Dinge richtig zu stellen. Das wäre ja keine Hilfe, wenn man eingedeckt würde mit ,,guten Ratschlägen”: ,,Nun lassen Sie mal den Kopf nicht hängen. Sie müssen doch nicht immer gleich das Schlechteste annehmen”. Es wäre auch keine Hilfe, wenn man das Leid klein reden würde mit dem Satz: ,,Jeder von uns hat sein Päckchen zu tragen”.
Die Erstarrung löst sich in einem wirklichen Gespräch. Meist fängt es an mit der schlichten Frage: „Was ist los?” oder „Worum geht es?” So einfache Fragen - und so notwendig. Im wahrsten Sinn des Wortes ,,die Not wendend”. Wer so fragt, will sich einlassen. Er geht nicht auf Distanz. Er lässt sich treffen und hält stand. Dann kann ein Gespräch beginnen, das heilt.

Teil III
Wäre unser Alltag nur bestimmt von berufsbedingten Beziehungen, dann würden wir zwar funktionieren, aber wir würden kaum noch etwas ausstrahlen von der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes. Wer nur noch Funktionär ist und sich in seinen Funktionen aufreibt - wie will der glaubhaft die befreiende Botschaft vermitteln, dass Gott kein Gefallen an Menschenopfern hat? Gott will, dass wir leben. Deshalb sind Seelsorger und Helfer jedweder Art auf gute menschliche Beziehungen angewiesen. Warmherzige und spielerische Beziehungen, wo einer für den andern richtig Zeit verschwendet.
Ein einfühlsames Wort, ein aufmerksames Zuhören - die lassen uns die Situation in einem neuen Licht sehen. Wenn einer da bleibt, uns anhört und mit uns spricht, entdecken wir vielleicht Möglichkeiten, die uns beim einsamen Grübeln verschlossen blieben.
Das ist für mich Seelsorge: Wenn sich ein Raum auftut, in dem ich nicht zu lügen brauche. Ein Raum, in dem ich angenommen werde mit meiner Not, meinen Gefühlen, meiner Überforderung. Ich muss nicht verbergen, wie mir zumute ist. All das schafft der Seele Raum. Dann kann ich aufatmen, auch wenn mein Idealbild vom starken, unerschütterlichen Helfer zerbricht. Vielleicht gerade deshalb, weil dieses unbarmherzige Bild zerbricht. Mit ihm zerbricht auch das Bild von einem unbarmherzigen Gott.
Sprechen und Zuhören - beides ist so lebenswichtig wie Ausatmen und Einatmen. Wir kommen zu Wort und uns wird Gehör geschenkt. Solche Erfahrungen sind im eigentlichen Wortsinn „Lebensmittel“: Nahrung für und durch den Tag.
In unserem überschaubaren Lebensbereich können wir viel füreinander tun. Wir können Auge sein in Situationen, in denen andere wegschauen. Wir können Ohr und Mund sein, wenn niemand sonst etwas zu sagen wagt und niemand weiß, wohin es gehen soll. Eines aber können wir nicht: Wir können nicht dem weltweiten Leiden ein Ende machen und den Tod in seine Schranken weisen. Auch mit dem größten Einsatzwillen können wir keine vollkommene Erde erschaffen. Es bleibt eine Grenze, die wir nicht überschreiten können. Die Grenze ist dann besonders schmerzlich zu spüren, wenn ein uns nahe stehender Mensch betroffen ist. Ich kann nicht an seine Stelle treten, nicht stellvertretend für ihn leben. Ich lebe mein Leben und stehe an meinem Platz, der andere lebt sein Leben und steht an seinem Platz. Eines allerdings kann auch die schlimmste Katastrophe und das größte Leid nicht zerstören, wenn wir selber es nicht verloren gehen lassen: dass wir füreinander achtsam sind und uns gegenseitig stützen und auffangen. Dass also einer dem andern „zum Christus wird”.
Ein junger Einsatzhelfer hat dieses Einstehen füreinander so erlebt: „Es ist”, sagte er, „als ob man einen schweren Rucksack einfach abgeladen hat“. https://www.kirche-im-swr.de/?m=835
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