SWR2 Wort zum Sonntag

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Wenige Tage nach dem Erdbeben auf Haiti fiel mir ein Bilderbuch für Kinder in die Hände. Es erzählt die Geschichte von Helen Keller, und ich habe in dieser Geschichte einen Gedanken gefunden, der mir geholfen hat, auch im Hinblick auf Haiti.
Helen Keller erkrankte als kleines Kind schwer und verlor dadurch nicht nur ihr Augenlicht, sondern auch ihr Gehör. Die verzweifelten Eltern stellten eine junge Blinden-Lehrerin ein mit dem Auftrag, dem völlig isolierten Kind das Sprechen beizubringen. Ein scheinbar aussichtsloses Unterfangen. Als die junge Frau wieder einmal mit den Nerven völlig am Ende war, weil Helen einfach nicht begriff, beschloss sie, mit ihr an die frische Luft zu gehen. Vor dem Haus [- es lag in einer Kleinstadt im amerikanischen Alabama -] gab es einen Brunnen, und da kam ihr eine Idee. Sie pumpte und ließ Wasser über die eine Hand des Kindes laufen, und in die andere Hand schrieb sie in Blindenschrift das Wort "Wasser". Und zum erstem Mal in ihrem Leben verstand die kleine Helen. Sie begriff plötzlich, dass es Worte gab, dass es eine Sprache gab und durch diese Sprache Kommunikation mit anderen Menschen möglich war. "Es war, als ob ich vom Tod zum Leben auferweckt worden wäre", schrieb Helen später; und von diesem Tag entfaltete sich ihr Leben wie eine Explosion. Sie lernte Lesen, Schreiben, sogar sprechen. Später studierte sie, gründete eine Schule, wurde zu einer weltweit gefragten Rednerin. Als sie 1968 in hohem Alter starb, hatte sie zahllosen Taubblinden eine Sprache gegeben.

Diese Geschichte von Helen Keller zeigt mir, dass Menschen lernen können, auch aus tiefstem Leid aufzustehen, es nicht als letzte Wirklichkeit zu sehen. Gott hat das Unglück nicht verhindert. Gott läßt es zu, dass Menschen Gefahren ausgesetzt sind und manche ganz schlimm leiden müssen. Und doch: Gott kapituliert nicht vor dem Leiden. Er kann eine Wende herbeiführen, einen unverhofften Neuanfang schenken - in jeder noch so aussichtslosen Lage. Aber dazu braucht er Menschen, die durchhalten. Ich denke an die junge Lehrerin von Helen Keller, die trotz Rückschläge einfach nicht aufgab. Ich denke an die Menschen aus aller Welt, die in Haiti Hilfe organisieren. Sie haben die Vision, dass dieses Unglück zwar nicht ungeschehen gemacht, aber doch gewendet werden kann.

Diese tapferen Leute braucht Gott, um Wunder zu tun. Das Wunder sehe ich darin, dass Menschen, ähnlich wie Helen Keller, eine neue Sprache lernen, eine Sprache, die das Leben total verändert, die eine neue Wirklichkeit erschließt. "Ich gebe dich nicht auf. Deine Schmerzen will ich lindern, deine Wunden will ich verbinden, Deinen Hunger will ich stillen mit dem, was ich habe. Und ich tue es nicht nur einmal, nicht nur heute. Ich will es so lange tun, bis du verstehst, bis du selber anfängst, diese Sprache der Hoffnung zu sprechen.

Jemandem, der im Dunkeln sitzt, diese Hoffnung zu bringen, ist nicht leicht. Es erfordert unendliche Geduld und großes Durchhaltevermögen. Gott hat diese Sprache erfunden, und Jesus hat sie den Menschen gebracht. Mit unendlicher Geduld hat er ihre Worte vorbuchstabiert, sie den Menschen in die Hände und in die Herzen geschrieben. Wo Menschen sie begreifen, da kann Unglaubliches geschehen. Da bricht das Licht der Hoffnung hinein in unsre alte, vergehende Welt.

Es ist nichts aussichtslos, weder in meinem noch in Ihrem Leben.
Und deshalb lohnt es sich, die Sprache der Hoffnung zu lernen und sie anderen beizubringen.
Hinschauen, hingehen, helfen, allen Rückschlägen zum Trotz.
Unbeirrbar, mit heiliger Sturheit. https://www.kirche-im-swr.de/?m=7756
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