SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Teil 1
Noch war Zeit bis zur Abfahrt des Zuges.
Ich schlenderte durch den Hauptbahnhof. Plötzlich blieb mein Blick an Fotografien hängen, die mitten in der Halle ausgestellt waren. Porträts waren darauf abgebildet. Gesichter von Menschen mit einem besonderen Blick. Neugierig näherte ich mich und schaute genauer hin. Jetzt sah ich, dass es Porträts waren von Menschen im Sterben und kurz nach ihrem Tod. Fotografien, entstanden mit Einwilligung der Abgebildeten. Mitten im lebhaften Treiben eines Bahnhofs war der Tod auf einmal ganz nahe. Vorsichtig und scheu, so als ob man nicht stören dürfte, bewegten sich die Menschen vor den Bildern. Die Gegenwart des Todes ließ Gespräche verstummen. Manche warfen nur einen kurzen Blick darauf und machten kehrt. Andere verweilten lange und andächtig. Nach einer Weile löste ich mich, um meinen Zug zu erreichen. Noch Stunden später fühlte ich mich seltsam berührt und wie in eine andere Welt versetzt.
Ich fand es mutig, diese zutiefst persönlichen, ja intimen Bilder sterbender und toter Menschen auszustellen. Und das, obwohl ringsum alles lärmte, wuselte und pulsierte.
Und damit zu zeigen: Sterben ist wie eine letzte Reise in ein unbekanntes Land. Alles Reisen ist ein Abbild dieses Weges.
Verbunden mit Abschieden und loslassen müssen.
Aber diese letzte Reise muss jeder alleine antreten. Wie durch einen engen Geburtskanal hindurch werde ich gehen müssen. Und ich werde nicht gefragt, ob ich will oder nicht, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Das macht Angst. Denn ich kann nicht mehr eigenständig über mein Leben verfügen, keine Entscheidungen mehr treffen. Ich kann mich nicht mehr entziehen und nicht mehr flüchten. Ich bin ausgeliefert und muss standhalten. Eine Reise ohne Wiederkehr.
Noch einmal denke ich an jene Photos, die in diesen Wochen auch in Stuttgart ausgestellt werden. Und an Menschen, die ich selbst im Sterben begleitet habe.
Manche von ihnen wurden mitten im Leben vom Tod umfangen, wie es ein mittelalterliches Lied sagt. Zur falschen Zeit kam der Tod, zu früh, zu brutal, zu unerwartet. Und andere erwarteten sehnsüchtig die Erlösung von ihren Schmerzen.
„Herr lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, betet ein Mensch in der Bibel. Und mahnt damit sich und uns heute, mitten im Leben dem Tod wenigstens einen stillen Tag im Jahr zu widmen. Einen Sonntag wie heute, den Totensonntag, der an die Verstorbenen erinnert. Ein Spaziergang über den Friedhof in der Dämmerung, wenn die vielen Lichter auf den Gräbern tröstlich leuchten, macht den Gedanken an den Tod erträglich. Und erinnert mich an den erlösten Ausdruck der Toten in jener Ausstellung, mitten im Leben.

Teil 2
Gehören Sie auch zu denen, die heute auf den Friedhof zum Grab eines lieben Menschen gehen? Vielleicht ist der Tod noch ganz nahe und der Schmerz unsagbar groß. Alles kommt wieder hoch, was man im Alltag wenigstens ein bisschen verdrängt. Die Tränen fließen und der Kummer bohrt riesige Löcher in die Seele.
Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Ja, so fühlt sich das an. Als ob man in der Trauer mehr tot als lebendig wäre. Alle Lebensfreude ist ausgelöscht. Bleierne Erschöpfung liegt über einem. Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen – mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen.
Martin Luther war es, der die Umkehr dieses so schweren Satzes versuchte, um zu trösten. Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen.
Das fühlt sich an wie eine geöffnete Himmelstür, die jeder braucht, dessen Seele so weh tut. Denn ist es nicht genau die Hoffnung über diese furchtbare Todesgrenze hinweg, die man jetzt am meisten braucht? Der Tod soll nicht die Oberhand behalten. Er darf nicht für immer und ewig Leben auslöschen und ins Nichts stürzen. Die Kraft des Lebens soll letztlich den Sieg davontragen. Totensonntag ist heute, ja, aber er hat noch einen zweiten Namen: Ewigkeitssonntag. Das gefällt mir besser. Auch wenn ich mir nur mit Bildern eine Vorstellung machen kann von der Ewigkeit, mit Bildern aus der Bibel. Dass Jesus vorangeht, um eine Wohnung zu bereiten für diejenigen, die mit ihm verbunden sind. Das ist so ein schönes tröstliches Bild.
Oder ein anderes: Gott wird mich in einem schöpferischen Akt verwandeln und mir meine Unsterblichkeit wie ein neues himmlisches Kleid überziehen.
Aber es wird nicht nur um mich alleine gehen.

Die ganze Welt wird von Gott hinein genommen werden in diese neue Schöpfung.
Eine geöffnete Himmelstür, ein Blick wie durch ein Kaleidoskop, macht mich nicht zur verträumten Weltflüchtigen. Es hilft mir im Gegenteil, mitten im Leben allem gefährlich Tödlichen zu trotzen: wenn jemand schlimm beleidigt wird, nicht weghören, sondern mich einmischen. Wenn blutige Wunden geschlagen werden, alles dafür tun, dass sie wieder heilen können.
Gottes Ewigkeit oder sein Himmel wird damit schon heute sichtbar. Aber etwas Schöneres und Größeres kommt erst noch, das glaube ich. Es hilft, davon zu erzählen. Sich die Bilder vor Augen zu malen.
Beim gemeinsamen Weinen um einen geliebten Menschen und auch dann, wenn wir uns sicher und unanfechtbar fühlen. Denn mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen – mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen. https://www.kirche-im-swr.de/?m=7171
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