SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

„Ich komme in ein Haus. Die abgehärmte Frau in Lumpen weint, ein Kind auf dem Arm, ein Kind im Leibe und eine Schar Kinder unter dem Strohdach. (…) Hunger, Hunger, sagt sie. Mich ergreift der Jammer, (…).
Ich verschaffe ihr einen Laib Brot. Sie ist etwas getröstet. Da kommt ihr kleiner lieber Dreckspatz mit der hier üblichen (…) Konservendose, (…). Seine Dose ist leer geblieben. (…) Hunger, sagen sie, Essen (…). Ich nehme den Kleinen an die Hand und lasse ihm an der Feldküche seine Konservendose füllen. Getröstet und glücklich wackelt er fort. Nun kennen sie den Doktor, auf Schritt und Tritt folgt mir die kleine Hungerschar.“

Der Mann, der diese Szene in einem Brief an seine Frau schildert, ist der evangelische Pfarrer und Arzt Kurt Reuber. Er schreibt aus Russland, wo er im Zweiten Weltkrieg als Seuchenarzt eingesetzt ist. Ein außergewöhnlicher Mann: Er hat Theologie und Medizin studiert und ist außerdem ein begabter Zeichner und Maler.
Mit aller Intensität erlebt er die Härte des Krieges: Kampfhandlungen, Verwundete und Tote, aber auch das Elend der russischen Zivilbevölkerung, die zuvor schon durch den Stalinschen Terror gelitten
hat. Vor allem die Alten, Mütter und Kinder leiden. Er berichtet: „Schwangere Frauen mit Kindern auf dem Arm und am Rock, mit Bettelsack und Lumpen, (…) 60 km im Schlamm zu Fuß, heimatlos, auf der Suche nach Brot ( … ), die Männer im Krieg untergegangen.“
Der deutsche Arzt hilft, wo er kann, und dann zeichnet er die Menschen. Unter Schmutz und Elend sucht und findet er das menschliche Antlitz und das hilft ihm diese Situation zu ertragen. Einige Kinder „habe ich hingesetzt und ihre Köpfe gezeichnet. Ich staune, welch feine Züge man unter der Dreckmaske entdeckt.“
Im November 1942 wird Kurt Reuber nach Stalingrad abkommandiert. Zwei Tage nach seiner Ankunft ist die Stadt von der Roten Armee vollständig eingekesselt. Hitler verbietet die Kapitulation und so beginnt für die eingeschlossenen deutschen Soldaten eine Zeit äußerster Entbehrung: Hunger und Kälte, tägliches Sterben, keine Aussicht auf Befreiung.
In der Hölle von Stalingrad stellt sich dem hoch sensiblen Theologen und Arzt die Frage nach dem Glauben ganz radikal. „Nun wird Weihnachten“, schreibt er seiner Frau am 20 Dezember. „Man drängt mich, dies und das für das Fest zu zeichnen.“ - Was wird er darstellen? -

Heiligabend 1942 im Kessel von Stalingrad. Die von der Roten Armee eingeschlossenen deutschen Soldaten feiern Weihnachten. Sie haben Adventskränze aus Steppengras und „Weihnachtsbäume“ aus Holzspänen gebastelt und versuchen sich gegenseitig eine Freude zu machen.
Der Truppenarzt und Pfarrer Kurt Reuber, künstlerisch begabt, hat etwas Besonderes für seine Mannschaft: „Als ich (…) die Lattentür unseres Bunkers öffnete und die Kameraden eintraten, standen sie wie gebannt, andächtig und ergriffen schweigend vor dem Bild an der Lehmwand, unter dem auf einem (…) eingerammten Holzscheit ein Licht brannte.“
Was die Männer dort sehen, ist unter schwierigsten Bedingungen entstanden: der enge Bunker, ein paar schwarze Kohlestifte, die immer wieder in den Lehmspalten verschwinden, als Papier die Rückseite einer russischen Landkarte.
Das Bild zeigt eine sitzende Frau mit einem Kind auf dem Schoß, „Kind und Mutterkopf zueinander geneigt, von einem großen Tuch umschlossen, Geborgenheit und Umschließung von Mutter und Kind“. Ruhe geht von den Figuren aus, die Linien sind groß und einfach. Das weite Tuch, das Mutter und Kind umhüllt, hat etwas Überpersönliches. Der Betrachter spürt: Es ist nicht dieser Umhang, , der Mutter und Kind Geborgenheit gibt. Sondern da ist eine Helligkeit, ein Licht zwischen den beiden Gesichtern, von dem man nicht weiß, woher es kommt.

An den Bildrand schrieb der Künstler in großen Buchstaben: „Weihnachten 1942 im Kessel“ und dann: „ Licht- Leben- Liebe“.
Welch ein Gegensatz!
„Licht – Leben - Liebe“ – das sind biblische Symbolworte für Jesus von Nazaret. Er lebte die Liebe und musste dennoch die Finsternisse von Angst, Schmerz und Tod durchwandern. So zeigt dieses Weihnachtsbild auch kein holdselig-harmloses „Christkind“, sondern nur ein kleines Köpfchen über einem schmächtigen Oberkörper. Aber Licht ist auf ihm, denn dies ist der, sagt der Maler – „der, unter Schmerzen geboren, alle Dunkelheit und Traurigkeit überstrahlt.“
Die „Madonna von Stalingrad“ – so wurde das Bild später genannt – sie bringt die christliche Botschaft konzentriert zum Ausdruck: In Jesus ist Gott uns nahe gekommen. Und er bleibt nahe. Er kann erfahren werden, wenn Menschen einander Liebe und Geborgenheit schenken, aber auch dann, wenn es im Leben dunkel wird. In seinen Briefen aus Stalingrad erinnert der Maler an ein altes Weihnachtslied:

Das ewig Licht geht da herein,
gibt der Welt ein neuen Schein.
Es leucht wohl mitten in der Nacht
und uns zu Lichtes Kindern macht.

Kurt Reuber blieb diesem Glauben treu bis zum Ende. Er starb im Januar 1944 in einem russischen Gefangenenlager. https://www.kirche-im-swr.de/?m=7136
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