SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Vor Jahren half ich mit bei der Haus- und Straßensammlung für das Hilfswerk „Caritas“. Als ich an einer der vielen Wohnungstüren klingelte, öffnete eine ältere Frau. Ich sagte mein Sprüchlein und bat um eine Spende. Beim Wort „Caritas“ verzerrte sich das Gesicht der Frau: „Wir haben immer gebetet. Mein Mann ist trotzdem im Krieg gefallen. Ich gebe nichts!“ Und sie schlug mir die Tür vor der Nase zu.
Was mich damals betroffen machte und bis heute beschäftigt, ist die Argumentation der Frau: Sie rechnete vor: So viele Gebete habe ich investiert, den Gewinn aber hat mir Gott verweigert, denn mein Mann ist im Krieg ums Leben gekommen. Also gebe auch ich keinen Pfennig für eine Institution, die sich auf diesen Gott beruft.

Als ich Schulkindern von diesem Erlebnis erzählte, meinte eine 10-Jährige: „Na ja, die Frau hat eben gedacht: Gott ist ein Automat. Für das,
was sie reinschmeißt, muss das herauskommen, was sie sich gewünscht hat.“ Ich glaube, treffender kann man es nicht sagen. Es gibt diese Einstellung: Manche Menschen betrachten ihr Beten, ihr zur Kirche Gehen oder ihre Spenden für einen guten Zweck als eine Art Einzahlung, für die sie einen entsprechenden Gegenwert erwarten. Treffen sie Schicksalsschläge oder sonstige unerwünschte Vorfälle,
fragen sie: „Wie habe ich das verdient?“ und kündigen Gott die Freundschaft.
Ich bin vor Kurzem auf einen Spruch gestoßen, der, wie ich meine, dazu etwas Wichtiges zu sagen hat. Die erste Aussage lautet: „Die Liebe zählt nicht“. „Zählen“ meint hier die Tätigkeit und will sagen: Ein liebender Mensch denkt und handelt großzügig und ohne Berechnung. Der zweite Satz scheint dem ersten zu widersprechen, denn er behauptet: „Nur die Liebe zählt“. Und das heißt: Am meisten kommt es im Leben auf die Liebe an, ihr kommt die höchste Geltung zu.
Sehr eindrucksvoll kommentiert das die Kurzgeschichte „Das Brot“ von Wolfgang Borchert. In den Hungerjahren nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt eine Frau, dass sich ihr Mann eines Nachts heimlich in die Küche geschlichen und dort eine Scheibe Brot abgeschnitten hat. Sie tut, als hätte sie es nicht bemerkt. Am nächsten Abend aber isst sie selbst nur eine einzige Scheibe und schiebt ihm die andere hin. „Iss du man, ich vertrag dies feuchte Zeug nicht.“ Er greift zu, senkt aber den Kopf vor Scham, denn er hat ihre liebevolle Lüge durchschaut. Diese Frau wusste: ‚Auch mir stehen zwei Scheiben zu’, doch ihr Herz hat sich an diesem Abzählen nicht beteiligt. Sie schenkte das Ihrige hin – nicht aus Berechnung, sondern aus Liebe.

(Musik)
In den „Sonntagsgedanken“ geht es um einen Spruch, bei dem es wichtig ist, genau hinzuhören. „Liebe zählt nicht. Nur die Liebe zählt.“ Schwierig vielleicht auf den ersten Blick, doch wenn man näher hinschaut, ein interessantes und wichtiges Wortspiel. Es könnte die Überschrift zu einem Gleichnis sein, das Jesus einmal erzählt hat.
Von zwei erwachsenen Söhnen hat der jüngere das Elternhaus frühzeitig verlassen, hat sein gesamtes Erbe durch ein verschwenderisches Leben aufgebraucht und kehrt nun elend und abgerissen nach Hause zurück. Der Vater sieht ihn kommen und reagiert so: Er läuft dem Sohn entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn. Dann wird ein großes Fest veranstaltet zur Feier seiner Wiederkehr.
Das ist ein Gleichnis, d.h. es geht hier nicht um eine pädagogische Anleitung, wie Eltern mit ihren Aussteiger-Kindern umgehen sollten. Der barmherzige Vater steht für Gott und seine überreiche Güte. Wo immer ein Mensch sich aufmacht zu ihm, da wird ihm Gott nicht das Register seiner Sünden vorhalten und daraufhin die Tür zumachen. Wo ein Mensch umkehrt, sich ehrlich umwendet hin zu Gott, da kommt ihm dieser voller Barmherzigkeit schon entgegen.
Dies ist die zentrale Botschaft Jesu: Gottes „ Liebe zählt nicht “ – eben darum setzte sich Jesus demonstrativ mit so genannten „Sündern“ zu Tisch - zur Empörung vieler Frommer, die davon überzeugt waren, dass man eine fest gesetzte Anzahl von Gesetzen zu befolgen habe, um das Heil zu erlangen.
Im Gleichnis Jesu ist es der ältere Bruder des jungen Taugenichts, der seinem Vater bittere Vorwürfe macht. Er zählt auf: „So viele Jahre diene ich dir, (…) mir aber hast du nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt.“ Der Vater lässt sich auf diese Argumentationsebene gar nicht ein, sondern antwortet ganz schlicht: „Aber jetzt müssen wir uns doch freuen
und ein Fest feiern, denn dein Bruder (…) war verloren und ist wieder gefunden worden“. Wie es in der Geschichte dann weiter geht, erfahren wir allerdings nicht.
So großherzig wie Gott zu sein, das gelingt uns nur selten oder nie. Aber jeder sieht ein: „Nur die Liebe zählt“.
Ob ein Kind in Armut oder Wohlstand aufwächst – nur wenn es geliebt wird, kann es sich entfalten. Zwei Ehepartner stehen gemeinsam eine schwere Zeit durch mit vielen Schicksalsschlägen, weil sie sich gegenseitig tragen und stützen. Den ehemals erfolgreichen Sportler zwingt eine schwere Krankheit zum Aufgeben, doch seine Freunde halten zu ihm und geben ihm so neuen Lebensmut.
Ob es uns momentan gut geht oder nicht - immer sind wir eingeladen, so gut wir können zu lieben: Menschen in unserer Nähe oder auch – wer weiß – in der Ferne. Wer liebt, macht die Welt auf jeden Fall ein Stück besser und heller und kann es vielleicht selbst erleben: „Die Liebe zählt nicht. Nur die Liebe zählt.“



(Der Ausspruch stammt von Pauline von Mallinckrodt, 1817-1881, Ordensstifterin, Gründerin einer Blindenanstalt und zahlreicher Mädchenschulen. Das Gleichnis vom barmherzigen Vater steht bei Lukas 15,11-32).https://www.kirche-im-swr.de/?m=6659
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