SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Ohne Vorankündigung fragte ich eine Bekannte: “Was ist für dich Alltag?“ Sie antwortete spontan: „Alltag ist Kochen, Bügeln, Putzen, Waschen! Dass das Essen jeden Tag auf dem Tisch stehen muss! Und dass ich schon im voraus weiß, wie mein Partner auf etwas reagiert und was für ein Gesicht er dabei macht. Im Alltag ist alles so eintönig!“ Ihr heftiger Ton gab mir zu denken. Muss unser Alltag „grau“ und schwer erträglich sein? Oder gibt es Möglichkeiten, ihm positive Seiten abzugewinnen?
Es kommt wohl darauf an, wie wir selbst den Alltag sehen.
Die tägliche Arbeit lässt uns spüren: Wir Menschen sind bedürftige, abhängige Wesen, die alle Kräfte einsetzen müssen, um körperlich und geistig zu überleben. Kein wissenschaftlich-technischer Fortschritt wird es fertig bringen, dass wir einmal nicht mehr arbeiten müssen - und das ist gut so.
„Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ – dieses Jahrtausende alte Wort aus der Bibel bleibt aktuell (Genesis 3,18).

Der Alltag verlangt von uns, unser eigenes Ich immer wieder zurückzustellen: Anstatt unseren persönlichen Neigungen nachzugehen, müssen wir eine vorgegebene Aufgabe erfüllen und Zeit und Kraft dafür einsetzen. Unsere Fähigkeiten werden dabei herausgefordert, unsere Ausdauer erprobt. Wer gute Arbeit am Tag geleistet hat, darf mit sich zufrieden sein. Er hat damit - nicht zuletzt - auch der ganzen Gesellschaft einen Dienst erwiesen. Ob ein Betrieb, eine Behörde oder die Familie – alle leben davon, dass möglichst viele möglichst gut ihre alltägliche Arbeit tun.
Für den Umgang mit anderen ist der Alltag eine gute Schule, denn er bringt uns mit Leuten zusammen, die wir uns meistens nicht ausgesucht haben. Vorausgesetzt, wir sind dazu bereit, kann jeder Tag zu einem kleinen Training in Sachen Rücksichtnahme und Toleranz werden – und das tut dann allen gut!
Es gibt viele Gründe, den Alltag mit freundlichen Augen zu betrachten.
Allerdings kommt es auf die richtige Dosierung an. Der große Dichter und Menschenkenner Goethe hatte dafür dieses Rezept:

Tages Arbeit, abends Gäste,
saure Wochen, frohe Feste
sei dein künftig Zauberwort.

(Musik)

Der Theologe Karl Rahner sieht im Alltag „die Schule der Nüchternheit, die Einübung der Geduld“. Hier, in tausend kleinen Situationen, ist Gelegenheit, mitmenschlich zu sein, christlich gesprochen: den Nächsten zu lieben. Oft sind es die Kleinigkeiten, die schwer fallen. Wie sehr etwa können uns Menschen, mit denen wir Tag für Tag zusammen sind, auf die Nerven gehen! Hilfreich ist da die einfache Erkenntnis: Auch ich nerve andere, auch ich bin des Öfteren schwer zu ertragen.
Der Apostel Paulus traut seiner Gemeinde zu, solche Probleme in christlichem Geist anzugehen:

„Ihr seid von Gott geliebt … Darum bekleidet euch mit aufrichtigem
Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde, Geduld! Ertragt euch gegenseitig
und vergebt einander, wenn einer dem anderen etwas vorzuwerfen
hat“ (Brief an die Kolosser 3, 12-13).

Für gläubige Menschen kann der Alltag eine Einladung sein, gerade hier Gott zu begegnen. In einem Gedicht von Matthias Claudius beschreibt ein Bauer, wie er jeden Morgen zur Feldarbeit zieht und was er dabei erlebt: zuerst kalten, dichten Nebel, dann die aufgehende Sonne, dann die wachsende und reifende Saat. Mit Freude und mit Bewunderung sieht er direkt Gott am Werk:

Oh, wer das nicht gesehen hat,
der hat des nicht Verstand.
Man trifft Gott gleichsam auf der Tat –
Mit Segen in der Hand;

Und sieht’s vor Augen: wie er frisch
Die volle Hand ausstreckt
Und wie er seinen großen Tisch
Für alle Wesen deckt.

Manch einem mag so etwas kindlich-naiv erscheinen. Doch jeder lebt von Elementen, die vor ihm da waren und ohne die er nicht existieren könnte: von Luft und Wasser, von Sonne und Erde. Wir bauen Autos, Computer und Teilchenbeschleuniger, doch das ist nur möglich, weil wir schon vorhandene Kräfte und Gesetzmäßigkeiten nutzen. Vielleicht gewinnt unser Alltag an Farbe, wenn wir die Schöpfung, die uns umgibt, bewusster wahrnehmen. Und vielleicht geht es uns dann wie dem „glücklichen Bauern“, der darin Gott so nahe spürt.

Der Alltag ist und bleibt eine nüchterne Angelegenheit. Doch damit hält er in uns die Sehnsucht wach, dass das wohl nicht alles sein kann: arbeiten, Geld ausgeben, wieder arbeiten. Wenn die Bibel von unserer ewigen Zukunft bei Gott spricht, gebraucht sie das Bild von einem festlichen Mahl. Vielleicht dürfen wir manchmal einen Schimmer davon – etwa an einem Sonntag wie heute – herüber scheinen sehen – mitten im alltäglichen Grau. https://www.kirche-im-swr.de/?m=5332
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