SWR2 Wort zum Sonntag

SWR2 Wort zum Sonntag

Während der Finanzkrise der vergangenen Wochen und Monate ist öfter die Frage an die Wirtschaftsjournalisten, aber auch an Verantwortliche in Wirtschaft und Politik gestellt worden: „Hätten wir es wissen müssen?“ Es gab doch Warnungen. Jemand gab die Ant-wort, indem er den Vergleich mit einem Vulkanausbruch zog: „Alle wissen, dass es pas-siert, aber nicht wann.“
Es ist aufschlussreich, was man für Antworten bekommt und wie schweigsam viele auf diese Frage hin sind, die sonst für jedes Problem die passende Antwort parat zu haben scheinen.
Es gibt sicher viele kluge Überlegungen und beachtenswerte Antworten auf diese Anfrage „Hätten wir es wissen müssen?“. Ich möchte mitten im Advent einen kleinen Baustein für eine Antwort zur Sprache bringen: Uns fehlt allen bis zu einem gewissen Grad die Wach-samkeit. Wir verlassen uns auf Statistiken und Prognosen, denken immer mehr im Sinne eines exponentiellen Wachstums: immer mehr, immer größer, immer höher, immer schneller – etwas anderes ist nicht vorgesehen. Dann wird man aber auf die Dauer so eine falsche Grundeinstellung einnehmen, weil das Leben in allen Bereichen nicht einfach einem ständigen Aufwärtstrend entspricht.
Menschen früherer Zeiten, die noch stärker dem Gang der Dinge ausgesetzt waren (Wind und Wetter, Glück und Schicksal), waren hier für einen Wechsel der Situation und der Stimmungen offener. Sie wussten, dass man dafür auch eine eigene Fähigkeit braucht, die zum Menschen gehört. Es ist die Wachsamkeit. Sie hat nicht nur in der Bibel des Al-ten und Neuen Testaments einen zentralen Platz, sondern gehört auch im vorchristlichen griechischen Denken, so z.B. bei Plato, zu einem wichtigen Grundelement menschlicher Existenz. Aber gerade das Neue Testament macht uns immer wieder aufmerksam, dass wir nicht nur wachsam sein sollen im Blick auf überraschende Schicksalsschläge, sondern dass unsere ganze Existenz im Blick auf alles, was auf uns zukommt und nicht zuletzt auch auf das, was aus uns selbst aufsteigt, offen bleibt, d.h. um die Vorläufigkeit vieler Dinge weiß, unsere eigene Anfälligkeit kennt und die Wandelbarkeit der Verhältnisse rich-tig einschätzt. Deshalb sind in der Bibel nicht nur die Wächter auf dem Turm, die das Feuer in einer Stadt rasch bemerken sollten oder zum Schutz eines Heeres, die rechtzei-tig den Feind ausmachen sollten, im Blick. So heißt es z.B. im ersten Petrusbrief: „Seid nüchtern und wachsam! Euer Widersacher, der Teufel, geht wie ein brüllender Löwe um-her und sucht, wen er verschlingen kann, leistet ihm Widerstand in der Kraft des Glau-bens.“ (5,8 f.; vgl. 1 Thess 5,6.10) Deshalb gehört diese Wachsamkeit grundlegend zum Menschen überhaupt. Sie ist eine „Tugend“. Das Wort ist uns fremd geworden, aber die Sache ist klar: Ohne Wachsamkeit taugt man nicht viel zum wahren Menschsein.
Wir haben uns so fest in unserer Welt und in den Systemen der Gesellschaft eingerichtet, dass wir diese grundlegende Wachsamkeit eher vergessen haben. Wir haben feste Erwar-tungen, wir wollen uns nicht gerne überraschen lassen. Wenn es dann wirklich anders kommt, sind wir sehr oft auch nicht recht in der Lage, angemessen und rasch auf andere Umstände zu reagieren. Vielleicht kann uns das in vielem so hilfreiche, aber manchmal auch falsch beruhigende elektronische Informationsnetz einschläfern. „Es ist alles sicher im Kasten.“
Der ganze Advent ist voll von Mahnungen zur Wachsamkeit. Die Bibel geht davon aus, dass wir leicht einer trügerischen Sicherheit anheimfallen. So gesichert ist aber unser immer endlich bleibendes, vorläufiges, auf Bewährung abgestelltes Leben nicht, und zwar in keinem Bereich. Das Mittelalter hat in dieser falschen Sicherheit des Menschen eine Maske des Bösen und des Teufels gesehen. Deswegen ist es am Ende Gott selbst, der über den Menschen wacht (vgl. Ps 3,6; 127,1; 17,15) und der uns immer wieder aufruft und weckt: „Wach auf!“ (Ps 35,23) Aber auch der Mensch bittet Gott immer wieder: „Wach auf! Warum schläfst du, Herr? ... Steh auf und hilf uns!“ (Ps 44,24.27; vgl. 59,5; vgl. hier Ijob 8,6).
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