SWR4 Abendgedanken RP

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Ob uns jemand liegt, ob wir gut miteinander können und uns einer sympathisch erscheint, darüber befinden wir meist mit allen Sinnen. Menschen müssen „sich riechen können”, um sich zu verstehen. Ist Nächstenliebe möglicherweise eine Sache der Chemie?


Teil 1
Eine Kollegin und ich, wir sitzen zusammen und planen eine gemeinsame Veranstaltung. Die Absprachen sind schnell getroffen, und das Ganze verläuft wohl zu ihrer Zufriedenheit. Am Ende stellt sie jedenfalls fest: „Ich merke, zwischen uns stimmt die Chemie”. Ich deute das so: Wir verstehen uns und können gut miteinander.

Nun glaubte ich allerdings schon vor unserem Treffen zu wissen, dass die Chemie stimmt. Schließlich ist sie eine Wissenschaft. Unter anderem die Wissenschaft von den chemischen Grundstoffen und von den chemischen Verbindungen. Chemisch habe ich mich mit meiner Kollegin nicht verbunden, und doch ist sie überzeugt: die Chemie stimmt. Ich weiß auch nicht, warum chemische Vorgänge heutzutage als „Chemie” bezeichnet werden. Aber so spricht man eben. Ähnlich ist es, wenn einer durch „die Botanik” wandert. Schön, wenn er dabei keinen „Knick in der Optik” hat. Gleich steht das ganze Fach für einen einzelnen Vorgang.

Chemiker experimentieren gern. Warum soll ich als Theologe nicht auch ein wenig mit der Chemie experimentieren? Schließlich war es der große Theologe David Friedrich Schleiermacher, der schon um 1799 eine Abhandlung über den „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens” schrieb. Dort ist zu lesen, dass Menschen, die miteinander im Einklang sind, sich gleichsam „unwillkürlich durch chemische Ähnlichkeit krystallisieren” können.

Also habe ich das mit der Chemie gleich ausprobiert. Ich habe mir ein paar Sätze aus der Bibel, speziell aus der Bergpredigt Jesu herausgesucht und überall dort, wo von Menschen die Rede ist, die einander nahestehen, probehalber die Wendung eingesetzt: „die Chemie stimmt”. Es hat sogar einen Sinn ergeben. Zum Beispiel: „Wenn ihr nur die grüßt, mit denen die Chemie stimmt, was tut ihr damit Besonderes?” (Mt. 5, 47). Ob der Jesus der Bergpredigt heute so reden würde? Oder Paulus in seinem bekannten Lied von der Liebe: „Wenn ich in der Sprache der Menschen und der Engel redete, aber die Chemie würde nicht stimmen, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke” (1. Kor. 13,1) Mir scheint, das trifft dann doch nicht ganz das, was Paulus mit der Liebe ausdrücken wollte.

Liebe und Wertschätzung - kann es die vielleicht auch dann geben, wenn die Chemie nicht stimmt? Dazu mehr nach der Musik.

Teil 2

In der Bibel gibt es genug Beispiele auch dafür, wie die Chemie zwischen den Beteiligten offenbar nicht stimmte - und doch hat einer trotz unstimmiger Chemie umsichtig gehandelt. Er hat das Notwendige getan. Ganz wörtlich: Das, was die Not wendet.

Nehmen Sie zum Beispiel den barmherzigen Samariter. Zwischen ihm und dem unter die Räuber Gefallenen hat die Chemie sicher nicht gestimmt. Zumindest fehlten alle Voraussetzungen dazu: Beide kannten sich nicht. Beide hatten nicht die gleiche Konfession. Auch sozial standen sie einander nicht nahe. Trotzdem tat der Samariter das Nächstliegende und versorgte das Opfer. In den Augen Jesu wurde er damit dem andern zum Nächsten.

Der Ausdruck „Nächster” ist dabei etwas missverständlich, weil er gleich an die „nächsten Angehörigen” denken lässt. Oder an die Menschen, die einem nahestehen. Oder eben an jene, mit denen „die Chemie stimmt”.

Jesu Sprachgebrauch geht da weiter. Weiter, als die Polizei erlaubt: Sogar dem Feind soll einer zum Nächsten werden. Das wirbelt doch glatt die ganze Chemie durcheinander!

Kein Wunder, dass schon die frühen Christen zunehmend von der „Bruderliebe” gesprochen haben. Da wurde Jesu Forderung der Nächstenliebe in den jungen Gemeinden eingeengt auf die Verträglichkeit in der Gemeinde. Bruderliebe - ein Wort, das Jesus selbst nicht benutzt hat. Allerdings, bei der Bruderliebe stimmt dann die Chemie wieder. Doch Jesus selbst sprach von Nächstenliebe und hat diese zur Feindesliebe erweitert. Damit hat er übrigens nicht gemeint: „Verhaltet euch so, dass ihr keine Feinde habt”. Wohl aber dies: Geht mit euren Widersachern so um, dass sie immer noch die Chance behalten, als Menschen geachtet zu werden. Es lohnt sich, mit dem Gegner, mit dem Andersdenkenden zu leben. Auch wenn die Chemie nicht stimmt - es ist allemal besser, als an der eigenen Gnadenlosigkeit unterzugehen.

Übrigens, Nächstenliebe heißt nicht, selbstlos sein. Sie ist keine Einbahnstraße, als müssten Christen uneigennützig und bescheiden ihr eigenes Wohlergehen zurückstellen. Nach Jesu Maßstäben wäre das gerade keine Nächstenliebe. Jesus will nicht, dass einer sich für den Partner, die Kinder, die Eltern, das Geschäft, die Firma aufopfert. Denn Jesus glaubte an einen Gott, der keine Opfer will, schon gar keine Menschenopfer.

Geben und Nehmen, was man einsetzt und welchen Nutzen man davon hat- das darf in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Deshalb legte Jesus Wert darauf, dass einer sich selbst in die liebvolle Fürsorge miteinbezieht.

Dass man auch einen Fremden in diese liebevolle Fürsorge miteinbeziehen kann - darum geht es gleich nach der Musik.


Teil 3

Den kann ich nicht leiden“ - „Die kann ich nicht riechen“ - „Den kann ich einfach nicht gut ertragen“. So sagt man, wenn man einfach nicht miteinande klarkommt. Wenn – wie man so schön sagt - die Chemie nicht stimmt.

Wenn Sie auch solche Beziehungen haben, dann kann ich Ihnen sagen: Man muss nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. Denn die Bibel hat für Sie und mich dazu einen praktischen Tipp. Im Neuen Testament nämlich steht: „Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut ihnen auch” (Mt. 7,31).

Die ganze Kunst des Zusammenlebens hat Jesus mit diesem einen Satz zusammengefasst und auf den Punkt gebracht. „Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut ihnen auch”. Die „goldene Regel” hat man diesen Satz aus dem Evangelium genannt. Sie regelt das Zusammenleben von Menschen auf eine gute und für alle bekömmliche Weise.

Das ist wohl auch der Grund, warum sich diese sogenannte „goldene Regel” in so gut wie allen Weltreligionen wiederfindet: im Islam, im Judentum, im Buddhismus, im Hinduismus, um nur ein paar zu nennen.

Das leuchtet ja auch ein und ist vernünftig: Mit dem eigenen Verhalten gebe ich vor, wie ich behandelt werden möchte. Mein Gegenüber und ich - wir sind dann nicht mehr darauf angewiesen, ob zwischen uns auf Anhieb die Chemie stimmt. Sondern: ich gebe durch mein Verhalten vor, wie ich das Zusammenleben wünsche. Und auch wenn mein Gegenüber sich nicht darauf einlässt, kann ich doch wenigstens bei dem bleiben, was mir als Umgangsstil wichtig ist. Das Jesuswort ist klar und praktikabel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch”.

Wer gewohnt ist, schon von Berufs wegen in wirtschaftlichen Kategorien zu denken, der wird merken: Es zahlt sich aus, das Miteinander nach guten Regeln zu ordnen.

Nehmen wir mal die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Unternehmen. Es ist erwiesen, dass sie ihre höchsten Potentiale entwickeln, wenn sie sich darauf verlassen können, dass die Unternehmensführung sie mit Respekt behandelt. Mögen die Mitarbeiter in der Kalkulation der Unternehmensführung zwar als „Humankapital” geführt werden - es bleiben Menschen, die wie alle Menschen das Grundbedürfnis haben, wertgeschätzt zu sein.

Mag auch manchmal die Chemie zwischen den Beteiligten nicht stimmen - es lohnt sich, dass man sich einlässt. Sich einlässt auf den Menschen, der einem so andersartig, so fremd erscheint, und wo man dem ersten Impuls folgen möchte: „Was habe ich mit dem zu schaffen?!”

Religionen, auch die christliche Religion, können die ökologischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Probleme der Erde nicht lösen. Aber Religionen und eben auch der christliche Glaube kann das erreichen, was allein mit ökonomischen Plänen, politischen Programmen oder juristischen Regelungen nicht erreichbar ist: die innere Einstellung, eben das „Herz” des Menschen zu verändern und ihn zu einer neuen Lebenseinstellung zu bewegen. https://www.kirche-im-swr.de/?m=4728
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