SWR4 Abendgedanken RP

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Viele Menschen reisen in diesen Tagen an den Rhein nach Bingen. Die Landesgartenschau lockt groß und klein. Manche werden dabei auch auf das Leben der Heiligen Hildegard von Bingen aufmerksam. Eine starke Frau, Visionärin, Heilkundlerin, Dichterin – und Prophetin. Heute am Gedenktag dieser großen Frau stelle ich Ihnen vor, was sie uns heute noch zu sagen hat

Teil I

Ihr Leben ist einfach faszinierend. Hildegard von Bingen ist bei manchen Veranstaltungen Menschen begegnet, die in diesen Sommermonaten auf der Landesgartenschau in Bingen unterwegs waren. Hildegard gilt als eine der bedeutendsten Frauen des Mittelalters. Sie war eine der größten geistigen Erscheinungen im christlichen Abendland und erlebt in unserer Zeit eine neue Aufmerksamkeit. Hildegard Strickerschmidt aus Bingen-Büdesheim, Präsidentin der Internationalen Hildegard von Bingen Gesellschaft, ist erfüllt vom Leben und Wirken ihrer Namenspatronin. Sie weiß um ihre zeitliche Distanz, aber auch um ihre innere Nähe zu uns:

Ja, Hildegard von Bingen ist ja eine Frau des 12. Jahrhunderts. Eigentlich sehr weit weg von uns. Von der Gesellschaft und der Denkweise. Umso erstaunlicher ist es wohl, dass sie heute so viel Beachtung findet. Sie war Benediktinerin, Äbtissin, gründete selber zwei Klöster, das eine in Bingen am Rupertsberg, und das zweite in Eibingen Rüdesheim, wo sie allerdings nie lebte, sondern wöchentlich zweimal mit dem Boot über den Rhein fuhr.

Hildegard Strickerschmidt hält sich nicht lange auf mit biographischen Daten. Sie erkennt in der großen Heiligen eine Frau mit einer erstaunlichen Begabung:

Schon seit frühester Jugend hatte sie eine seltene Begabung, die sie die Gabe der inneren
Schau nennt. Sie sagte: „Ich sehe mit den Augen meiner Seele bei offenen äußeren Augen und Ohren und ich höre mit dem inneren Ohr. Es geschieht einzig in meiner Seele.“ Sie schaut großartige Bilder über den Kosmos, große Symbole, vor allem das Kreissymbol kommt oft bei ihr vor. Die Vision über die Entstehung des Menschen, über den Sündenfall, über die Erlösung durch Jesus Christus, ganz viele Visionen über die Kirche, über die Endzeit und über das neue Jerusalem


Die Mystikerin Hildegard ist nicht für alle Menschen erschließbar. Viele finden heute eher einen Zugang über ihre Heilkunde. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die Naturheilkunde der Heiligen Hildegard beinahe weltweit verbreitet. Der boomende Gesundheitsmarkt eröffnet sicherlich neue Wege. Die Präsidentin der Hildegard-Gesellschaft kann von persönlichen Erfahrungen berichten und tritt damit manchen kritischen Stimmen entgegen:

Dann ist heute sehr wichtig geworden ihre Heilkunde, ihre medizinischen Werke, die einerseits sehr verehrt, andererseits sehr stark in Zweifel gezogen werden. Aber es gibt viele Menschen, die sich darauf einlassen und erstaunliche Wirkungen erleben.

Hildegard von Bingen ist vielseitig. Sie ist Visionärin. Sie ist Heilkundlerin. Sie ist aber auch auf der Suche nach neuen Zugängen zum Schöpfergott.

Teil II

Hildegard von Bingen begeistert noch heute gut 900 Jahre nach ihrer Geburt viele Menschen. Ihre Naturheilkunde sieht den Menschen als ganzheitliches Wesen. Heil und Heilung sieht sie als Einheit. Doch die große Benediktinerin des Mittelalters schreibt sich das alles nicht selbst zu. Sie schöpft ihr Wissen und ihren Glauben aus einer tiefen Gottesbegegnung. Eine Begegnung, die auch für heute noch etwas zu sagen hat. Hildegard Strickerschmidt, Präsidentin der Hildegard-Gesellschaft, hat sich viel mit dem Leben der Heiligen beschäftigt. Das hat auch ihr eigenes Gottesbild verändert:

Sie hat sehr viele, ich möchte fast sagen alle Lebensbereiche besprochen, aber sie sagt immer, ich spreche nicht aus mir selber. Ich sage nur das, was mir Gott eingibt: Ich bin die Posaune Gottes. Mit Hildegard habe ich ein völlig anderes Gottesbild bekommen. Sie sagt, sie sieht, schaut Gott als Licht, als Leben und als Liebe. Ein überhelles Licht. Sie sieht den Mensch gewordene Liebe Gottes in Jesus Christus als eine Gestalt mit einem leuchtenden Angesicht. Sie sagt, ich könnte leichter in die Sonne blicken als in dieses Gesicht.

Die Gedanken Hildegards gehen in die Tiefe. Sie zeichnet ein Gottesbild, das zu ihrer Zeit einfach und neu zugleich war. Dieses Bild von Gott führt zu seiner Schöpfung, in der wir als Menschen mit allen anderen Geschöpfen zusammen leben. Gott hat seine Kräfte in den Kosmos gegeben. Jedes Lebewesen lebt aus dem Geist Gottes, der ausgegossen ist über alle seine Geschöpfe. Diese Sicht der Schöpfung ruft in die Verantwortung:

Wir dürfen sie nicht missbrauchen, wir dürfen sie nicht ausbeuten. Wir sollen sie behandeln mit demselben Geist mit dem Gott alles Geschaffene hat – nämlich mit Liebe. Und in jedem Geschöpf kommt uns diese Phantasie, diese unglaubliche Gestaltungskraft und Liebe entgegen, wenn wir nur offen dafür sind.

Schon im 12. Jahrhundert zeichnet Hildegard von Bingen eine Schöpfungsverantwortung, die heute noch aktuell ist. Hildegard hatte einen besonderen Zugang zur Schöpfung, zu den Pflanzen und Tieren. Kein Wunder, dass bis zum kommenden Sonntag der traditionelle Hildegard-Herbst passend zur Landesgartenschau die Pflanzenkunde Hildegards in den Mittelpunkt stellt. Hildegard Strickerschmidt erzählt mir aber auch noch von einer anderen Seite der Heiligen. Sie hatte den Mut ihre prophetische Stimme zu erheben und Obrigkeiten zu kritisieren, wenn sie sich zu sehr von Gottes Wort entfernten.

Teil III

Heute ist der Gedenktag der Heiligen Hildegard von Bingen. Gerade jetzt zur Landesgartenschau werden viele Menschen Spuren dieser großen Benediktinerin des 12. Jahrhunderts in Bingen und Umgebung entdecken. Auch Veranstaltungen nehmen das Leben dieser vielseitigen Frau in den Blick. So wird am kommenden Samstag das Oratorium »Hildegard von Bingen« aufgeführt. Dieses große musikalische Ereignis wird den Besuchern das Leben Hildegards neu eröffnen. Und kann zeigen, dass Hildegard mehr als Visionärin und Naturkundlerin, Dichterin und Heilerin war. Sie war zu ihrer Zeit auch eine bedeutende Ratgeberin wichtiger Persönlichkeiten. Sie versteht sich in ihrer Rolle als Prophetin. Hildegard Strickerschmidt, die Präsidentin der Internationalen Hildegard von Bingen Gesellschaft, beschreibt diese Rolle so:

Hildegard bezeichnet sich selber als die Prophetissa, dass heißt, sie hört in der göttlichen Stimme: Ich habe dich höher gestellt als die Propheten des Alten Bundes und Propheten sind ja nicht, wie es normalerweise so gedacht wird, Menschen, die die Zukunft weissagen, die Wahrsager sind. Das sind nicht die Propheten. Die Propheten sind Menschen, die Gottes Botschaften den Menschen vermitteln und die sind in der Regel unbequem.

Unbequeme Botschaften hörten die damaligen Machthaber nicht gerne. Schon gar nicht aus dem Mund einer Frau. Dennoch waren ihre Ratschläge gefragt:

Sie hat einen sehr großen Briefwechsel, in dem sie sehr hochgestellten Persönlichkeiten in Staat und Kirche, angefangen von Kaiser Barbarossa bis zum Papst, zu vielen Bischöfen, Äbten, auch natürlich hochgestellte Frauen. Denen hat sie gesagt, was sie in einer Schau über diese Person gesehen hat, was sie erkannt hat. Auch wenn es sehr unangenehm war, hat sie nur immer ihrem Gewissen gehorcht. Sie wirkt deswegen auf uns wie eine sehr starke Frau, die unerschrocken für Gerechtigkeit hin steht, auch für Menschlichkeit, für Barmherzigkeit unter den Menschen. Gerade die Männer mahnt sie sehr zur Menschlichkeit.

Hildegard von Bingen rüttelt auf und mahnt. Sie korrigiert in ihren zahlreichen Briefen das Handeln wichtiger Persönlichkeiten in damaliger Gesellschaft und Kirche. An Herzog Matthäus von Lothringen schreibt sie: Wenn du aber mit dem Volk kein Erbarmen hast ... ziehst du nicht vor ihm her, sondern führst es in die Fremde des Elends. Du bist da zum Segnen ... und nicht zur Züchtigung. In diesen Sätzen wird deutlich: Hildegard von Bingen war eine Frau mit einer klaren Sprache und einer deutlichen Botschaft. Hildegard Strickerschmidt spricht bei ihrer Namenspatronin von einer geerdeten Spiritualität. Dabei geht es der Visionärin und Mystikerin, der Theologin und Naturkundlerin in allem nur um das Eine:

Es ging ihr um die Liebe, um die Gerechtigkeit, um die Menschlichkeit und die
Barmherzigkeit.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=4484
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