SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

„Das Leben kann man nur rückwärts verstehen, muss es aber vorwärts leben”. So hat es der Theologe und Philosoph Kirkegaard auf den Punkt gebracht. Aber woher kommt die Kraft, zuversichtlich vorwärts zu leben, wenn man schon einiges hinter sich hat?

Teil 1
Wer „in die Jahre kommt”, schaut gern zurück. Schließlich ist die gelebte Zeitspanne weitaus größer als die noch zu lebende. Viele versuchen, Bilanz zu ziehen, und oft sieht die dann so aus: „Wenn ich mein Leben noch einmal von vorne beginnen könnte, dann würde ich manches anders machen. Schließlich bin ich um viele Erfahrungen reicher. Heute würde ich dies oder jenes sicher nicht mehr tun.”

Wer so denkt, der leidet unter dem Bruchstückhaften, dem Unfertigen seines Lebens. Er will sich nicht abfinden mit den verpassten Möglichkeiten. Vielen Menschen ist er nicht gerecht geworden. Manches ist er ihnen schuldig geblieben. Schuldlos geht keiner durch ein langes Leben.

Wehmut kann einen da schon mal beim Anblick eines neugeborenen Kindes ergreifen: Du hast es gut. Vor dir liegt noch das Leben mit all seinen Möglichkeiten und Chancen.

„Wie kann einer von neuem geboren werden? Kann er denn wieder zurück in seiner Mutter Schoß?” Verständlich, dass diese Frage schon einen Mann namens Nikodemus beschäftigt hat. Eines Nachts geht er mit dieser Frage zu Jesus. Wir wissen das aus dem Johannesevangelium.

Nikodemus kann nicht glauben, dass der Mensch ein anderer werden kann. Er ist überzeugt: Jeder ist vor Gott das, was einer aus sich macht.

Wenn es das die endgültige Wahrheit wäre, die über mich, die andern, das Leben zu sagen ist: „Du bist, was du aus dir machst” – woher nähme ich dann meine Lebenszuversicht? Zwar könnte ich entgegenhalten: Immerhin habe ich versucht, in der mir gegebenen Lebenszeit etwas aus mir zu machen. Doch realistisch stelle ich fest: Oft ist es bei guten Vorsätzen geblieben.
Was antwortet Jesus dem Nikodemus? Was sagt er einem, der seine Daseinsberechtigung ableitet von dem Maß seines Verhaltens und Tuns?

Er sagt ihm: Du bist ein gelehrter, kluger und frommer Mann. Doch das Wichtigste hast du nicht verstanden: Ein Mensch kann sich selber nicht neu machen. Neues Leben wird uns „von oben”, also durch die Tat Gottes zuteil. Neu geboren – das darfst du, Nikodemus, wie ein Geschenk annehmen. Machen kannst du es nicht selber.

Ich verstehe die Worte Jesu so: Wie ich ohne mein Zutun geboren wurde, so wirkt ohne mein Zutun Gottes Geist an mir – wenn ich es zulasse und dem Geist Gottes vertraue. Dann befreit er mich von der Last der Vergangenheit und schafft, was ich nicht leisten kann.

Vertrauen statt grübeln und zweifeln. Loslassen und sich überlassen - das bewirkt der Geist Gottes. Es ist das Geheimnis eines lebendigen Glaubens. Und das Geheimnis eines vitalen Lebens.

Teil 2
Auch wenn man – wie ich – nicht mehr der Jüngste ist, kann man vital und kraftvoll leben, obwohl manches mühsamer wird und schwieriger wird.

Vital ist in meinen Augen, wer den Spuren der Vergänglichkeit ins Auge schauen kann und das Leben liebt, das sterblich und vergänglich ist. Der ist vital, der sich auf Begegnungen einlassen kann, der sich von neuen Aufgaben herausfordern lässt. Der beten kann: „Herr, zeige mir, welchen Weg ich heute gehen soll, und gib mir den Mut, auf diesem Weg dir nachzufolgen”.

Was ist wichtig, wenn man älter wird? Ich benenne es mit dem Wort „sich versöhnen”. Für mich heißt das: Ich weiß, dass mein Leben bruchstückhaft geblieben ist. Ich weiß, dass ich vieles nicht mehr verwirklichen kann, was ich mir in jüngeren Jahren als Ziel gesetzt habe. Aber ich vertraue darauf, dass ich mit Gottes Barmherzigkeit rechnen darf. Ich hoffe darauf, dass Gott mein bruchstückhaftes Leben auffangen und heilen und vollenden und dass er meinem Leben Sinn und Bestand schenken wird. Und das gibt meinem Leben eine ganz neue Kraft.

Werde ich gefragt: Wie schaffst du das, kraftvoll und nach vorne hin zu leben?, dann kann ich nicht auf meine körperlichen Kräfte verweisen. Die lassen mit zunehmendem Alter nach. Ich kann auch nicht auf meine seelischen Kräfte vertrauen. Mit denen steht es nicht immer zum Besten. Kraftvoll leben - das kann ich, wenn ich im Kontakt mit einer Kraftquelle außerhalb von mir bin. Solch eine Quelle ist für mich der Glaube daran, dass Gott mich nicht festlegt auf meine Vergangenheit. Mag sein, dass ich vieles schuldig geblieben und sicher auch schuldig geworden bin. Aber das Vergangene soll mich nicht für immer belasten.

So kann ich nach vorne hin leben. Ich muss mich nicht jünger und jünger träumen, bis ich bei der Naivität des Kindes angekommen bin. Sondern neu geboren - und das, obwohl ich wie wohl die meisten gezeichnet bin von den Narben des Lebens. Neu geboren – als einer, der manches schuldig geblieben und an anderen schuldig geworden ist. Neu geboren – das verändert den Blick auf das Leben.

Dabei hilft es mir auch, mich daran zu erinnern: ich bin als kleines Kind getauft worden. Zu dem Kind, das ich war und das nach den üblichen Maßstäben noch nichts für die Gesellschaft geleistet hat, zu diesem Kind hat Gott Ja gesagt. Damit hat mir eine unverlierbare Würde gegeben. Deshalb glaube ich: Gott sagt Ja auch zu dem mittlerweile alt gewordenen Menschen. Zu jedem einzelnen von uns – bedingungslos.

Ich wünsche auch Ihnen, dass Sie aus dieser Quelle schöpfen können und Kraft finden für das Leben, das vor Ihnen liegt. Und für heute: einen gesegneten Sonntag. https://www.kirche-im-swr.de/?m=4040
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