Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

15MAI2024
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Bei einem Spaziergang im Wald kam ich an einem freistehenden Baum vorbei. Auf den Stamm hatte jemand mit weißer Farbe Buchstaben gepinselt, ziemlich ungelenk und schwer zu entziffern. Wie kann man nur gesunde Bäume mit Wandfarbe traktieren? Trotzdem war ich neugierig, ob das Gepinsel überhaupt irgendwas aussagt. Schließlich hatte ich‘s raus: „Heute schon geärgert?“ stand da. Auf einem Stamm. Mitten im schönsten Wald. Spätestens da dachte ich: Ja, hab ich, und zwar über dich, du Blödmann! Aber ich war nicht nur wütend, sondern auch etwas irritiert. Denn diese Aktion war ja nicht nur ziemlich frech, sondern doch auch irgendwie pfiffig.  

„Heute schon geärgert?“ Die Frage unterstellt, dass ich mich im Grunde ganz gern ärgere. Dass ich geradezu Spaß daran habe, irgendwas zu finden, worüber ich mich empören kann.  

Die Vorsitzende des deutschen Ethikrates, Alena Buyx, spricht sogar von der „Lust an der Empörung“. Und ich glaube, da ist wirklich was dran. Wie konnte man sich während der Pandemie doch empören, je nach Standpunkt über die Rücksichtslosen oder über die ewig Ängstlichen. Die akute Pandemie ist mittlerweile Geschichte, aber die Streitthemen gehen nicht aus. 

„Wir müssen wegkommen von der Lust an der Empörung“, sagte Alena Buyx damals. Empörung hat immer etwas mit Lust zu tun. Schon das Wort weist darauf hin: Empörung hebt mich „empor“, stellt mich über andere. Und größer zu sein als die andern, das macht nicht nur kleinen Kindern Lustgefühle, sondern – leider – auch Erwachsenen. 

Ich will mich darin üben, nicht ständig empört zu sein. Ich will meine Meinung ganz selbstverständlich vertreten, sachlich, überzeugt, aber nicht überheblich. Dann habe ich ja auch bessere Chancen, gehört zu werden, als in einer Atmosphäre, die jeden Disput zu einem Schaukampf macht. 

Ich weiß nicht, ob mir das gelingt, aber versuchen will ich‘s. Und weil das eine größere Sache ist, will ich klein anfangen. Nicht bei den ganz großen Themen, sondern beim Kleinklein, beim täglichen Ärgern, über dies und das.

Und wenn ich dann wieder mal an dem Baum vorbeikomme und lese „Heute schon geärgert?“, dann möchte ich auch mal antworten können: „Nein, ich heb meine Kraft lieber  auf. Für Wichtigeres.“  

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