SWR4 Abendgedanken

10MAI2024
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„Lügen haben kurze Beine!“ Diese Redewendung habe ich als Kind oft von Erwachsenen zu hören bekommen.

Und als ich klein war, habe ich das wort-wörtlich verstanden. Ich habe also tatsächlich gedacht, dass meine Beine beim Lügen etwas kürzer werden. So ähnlich habe ich das aus der Geschichte über Pinocchio gekannt, dessen Nase beim Lügen immer länger wird. Für mich war es deshalb auch kein Wunder, dass meine Eltern so schnell gemerkt haben, wenn ich am Flunkern war. Ich habe gedacht, die sehen das mir und meinen kurzen Beinen einfach an.

Natürlich habe ich recht bald herausgefunden, dass man Menschen meistens überhaupt nicht ansieht, wenn sie lügen. Wenn wir wollen, können wir uns deshalb untereinander ziemlich gut täuschen. Sei es mit einer kleinen Notlüge oder auch durch einen richtig großen Betrug.

Richtig erschreckend finde ich aber, wie gut man sich dadurch auch selbst belügen kann. Wenn ich zum Beispiel jemanden verletzt habe, kann ich mir danach ganz leicht einreden: „Ach, das war ja gar nicht sooo schlimm“. Obwohl das eine handfeste Lüge ist, sehe ich im Spiegel unverändert aus. Es bräuchte einen besonderen Spiegel, in dem ich sehen kann, was ich richtig und was ich falsch gemacht habe. Und so einen Spiegel gibt es: Es ist mein Gewissen.

Mein Gewissen zeigt mir ziemlich deutlich, wenn etwas nicht gut gelaufen ist.

Dann fange ich oft an, nach Gegenargumenten zu suchen: Meine Nachbarin hätte sich über einen Besuch von mir bestimmt gefreut, aber ich hatte so viel zu tun und alles andere war grade wichtiger. Gestern morgen habe ich meine schlechte Laune an meiner Familie ausgelassen. Später hat mir das leidgetan und das könnte ich ihnen auch sagen. Aber ist es so unangenehm, sich und anderen sein blödes Verhalten einzugestehen und damit auch in Erinnerung zu rufen.

So oder ähnlich dreht sich oft mein Gedankenkarussell. Dabei ist das Muster immer gleich: Während ich selbst mit ziemlich lahmen Gegenargumenten komme, um mir das Leben leichter zu machen, zeigt mir mein Gewissen ganz schonungslos, in welche Richtung es eigentlich gehen muss.

Ohne mein Gewissen, könnte ich mir selbst vermutlich ständig in die Tasche lügen. So weiß zumindest ich, wie kurz meine Beine wirklich sind. Und ich habe mit jedem neuen Tag eine neue Chance, es wieder gut und beim nächsten Mal besser zu machen.

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