Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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03MAI2024
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Da wo ich wohne, hat jemand auf einen geteerten Feldweg mit Kreide geschrieben: „Jesus ist toll. Jesus ist für uns am Kreuz gestorben, Jesus lebt.“ Und das auf einer Länge von etwa einem Kilometer. Was die Sätze für den Schreiber bedeuten, weiß ich nicht. In den zehn Minuten, in denen ich über diese Sätze gelaufen bin, ist mir meine eigene Geschichte mit Jesus und dem Kreuz durch den Kopf gegangen: In den 63 Jahren meines Lebens ist Vieles schwierig gewesen und oft hat mich das Kreuz getröstet. Trotzdem habe ich mir immer wieder gewünscht, dass das Leben aufhört schwierig zu sein. Ich wollte sorglos und glücklich sein. Manche Erinnerungen an schwere Zeiten hätte ich am liebsten aus meinem Gehirn gelöscht. Zum Beispiel die Erinnerung an meine Schwangerschaft. Ich war damals noch sehr jung, hatte gerade angefangen zu studieren. Ich könnte viel darüber erzählen, was mich damals belastet hat. Das ist lange vorbei und heute bin ich froh, wie alles geworden ist: Mein Sohn ist ein wunderbarer Mann und Vater. Er ist lebenstüchtig, gesund. Ein ehrlicher Mensch. Und wir haben eine gute Beziehung zueinander. Er wirft mir nicht mehr vor, was ich als Mutter alles versäumt habe. Alles gut, könnte ich sagen. Wenn ich nicht immer wieder in bestimmten Situationen traurig wäre. Zum Beispiel wenn ich sehe, wie aufmerksam er mit seinem kleinen Sohn ist. Das konnte ich damals mit ihm so nicht sein.

Mir hilft es dann, wenn ich mit meinem alten Vater darüber spreche. Er ist 89 und stellt auch für sich fest, dass alles, was er jemals erlebt hat, bleibt. Je älter er wird, desto intensiver ist die Erinnerung an seine Kindheit und Jugend. Alles ewig vorbei und doch ist Vieles so präsent, als wäre es gestern gewesen. Wenn er das so erzählt begreife ich einmal mehr: Nichts geht verloren. Kein Glück und keine Freude, aber auch keine Traurigkeit und kein Schmerz. Ich habe gelernt zu würdigen, dass ich gewachsen bin mit allem, was schwierig war. Der gekreuzigte Jesus ist für mich dabei ein hilfreiches Bild. Die Not, der Schmerz - auch das ist Leben.

Als die Kreide-Sätze auf dem geteerten Feldweg zwischen den Äckern vor meinem Wohnort aufhören, schaue ich zurück. Sehr dankbar für alles.

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