SWR4 Sonntagsgedanken

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Von Hirten und Schafen
Im Moment wird über vieles diskutiert. Um Schwangerschaftsabbruch und Sterbehilfe geht es, um Klimaschutz und Tempolimit und vieles mehr. Viele wünschen sich da weniger Regeln und mehr Freiheit. Wollen selbst bestimmen. So entscheiden, wie sie es wollen. Über ihren eigenen Tod, ob sie das Auto nutzen oder ein Fahrrad, ob sie Fleisch essen oder Veganer sind. Andere rufen nach starken Politikerinnen. Wollen, dass die sagen, wo es lang geht. Wollen klare Ansagen in den strittigen sozialen Themen.
Selbst bestimmen oder geführt werden – was ist da richtig? Um diese Frage zu beantworten, kann ich auch auf alte christliche Bilder zurückgreifen. Eins davon: Der gute Hirte.
Bis heute gibt es die Rede vom Hirten. So stammt etwa das Wort „Pastor“ aus dem lateinischen und heißt genau das: Hirte. Und von Bischöfen wird gesagt, sie üben ein Hirtenamt aus. Sollen Oberhirten sein.
Doch die Rede vom Hirten ist älter als das Christentum. Auch das Judentum kennt dieses Bild. Viele wichtige biblische Personen sind Hirten. Das reicht von Abel, der von seinem Bruder Kain erschlagen wird, bis hin zu Abraham, auf den sich Judentum, Christentum und der Islam berufen. Auch Mose, der die Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten befreit, war Hirte.
Hirte, das ist mehr als ein Beruf. Denn der Hirte hat besondere Verantwortung für seine Herde. Für Schafe, Ziegen, Kühe oder Pferde. Ein Hirte oder eine Hirtin setzt sich für die Tiere ein. Kümmert sich um sie. Führt sie von Weide zu Weide, zu frischem Futter. Sorgt für einen Stall. Beschützt mit Hütehunden die Herde. Und zugleich entscheiden Hirten auch über ihre Tiere. Scheren sie, verarbeiten ihre Milch und ihr Fleisch, setzen sie für die Arbeit ein.
Hirten stehen damit für zwei Aspekte des Lebens: Sie sorgen sich um andere – und geben zugleich die Richtung vor, bestimmen, was Sache ist. Wenn ich also nach Hirten rufe, nach Führung, nach Vorgaben, dann muss mir klar sein: Ich mache mich selbst zu einem Schaf, zum Teil einer Herde. Das macht mir manchmal das Leben leichter. Aber zugleich gebe ich damit die Freiheit ab, selbst entscheiden zu können.


Sich selbst einbringen
Das Bild vom guten Hirten ist im gesamten Orient seit Jahrtausenden verbreitet. Es steht für die Art und Weise, wie Menschen ihre Macht und Herrschaft ausüben. Das Bild enthält damit zwei Elemente. Erstens: Der Hirte will bestimmen. Schafe oder andere Tiere sollen ihm als Herde folgen. Zweitens: Herrschaft geht mit Fürsorge einher. Hirten haben sich um ihre Herden zu kümmern.
Aber das ist nicht alles. Als Jesus vor gut zweitausend Jahren auftritt, da prägt er ein drittes Element. Der gute Hirte, so sagt Jesus, ist der, der sogar sein Leben für die Schafe einsetzt. Der alles tut, damit kein Schaf verlorengeht, stirbt, verhungert, erfriert, von wilden Tieren gerissen wird. Ein Hirte ist nur dann ein guter Hirte, wenn er sich selbst für seine Herde einsetzt.
Das finde ich einen ziemlich spektakulären Gedanken. Er hat viele Menschen inspiriert. Es gibt unzählige Darstellungen in der Kunst, die Jesus als guten Hirten zeigen. Meist trägt er dabei ein Schaf auf seiner Schulter. Die Idee dahinter: Der gute Hirte, der geht so weit wie jedes einzelne Schaf. Holt es aus jeder kniffligen Situation. Und riskiert dabei, sich selbst zu verletzten, abzustürzen, zu sterben.
Damit wird das Verhältnis von Hirte und Herdentier quasi umgedreht. Statt dass der Hirte über seine Tiere bestimmt, macht sich zu ihrem Diener. Setzt die Tiere an die erste Stelle – und eben nicht mehr sich.
Ich finde das ein starkes Bild, auch für meine Gegenwart. Denn wenn ich die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussionen ansehe: Da könnten wir durchaus mehr Führungsgestalten brauchen, die für die Menschen da sind. Ich würde mir da oft mehr vom guten Hirten wünschen, wie Jesus ihn vorstellt. Natürlich in Politik und Wirtschaft, aber auch bei vielen ganz normalen Menschen. Und da schließe ich mich ein. Denn es gibt ja die guten Hirten, die riskieren, für ihr Engagement auch angefeindet zu werden: Die Nachbarin, die für einen syrischen Flüchtling da ist; die Schule, die sich gegen Rassismus einsetzt; die Familie, die wegen des Klimaschutzes wochentags kein Fleisch mehr isst. Das kostet nicht das Leben. Aber es macht deutlich: Hier setzen sich Menschen radikal für andere ein – wie der gute Hirte.


Zu Johannes 10, 11-18
In jener Zeit sprach Jesus: Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen, lässt die Schafe im Stich und flieht; und der Wolf reißt sie und zerstreut sie. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt. Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten. Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es von mir aus hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen.

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