SWR2 Wort zum Tag

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08MRZ2024
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Hundertmal gesehen und doch nicht bemerkt! So ging es mir mit der Frauengestalt, die auf dem berühmten Deckenfresko von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan dargestellt ist. Ich meine die berühmte Szene, in der Gott und Adam sich aufeinander zu bewegen. Und sich mit ihren Fingerspitzen zu berühren scheinen.

Dieses aufregende Detail auf dem Gemälde habe ich lange übersehen. Dass nämlich Gott seinen anderen Arm um eine Frau gelegt hat. Lange hat man in der Kunstgeschichte angenommen, es handele sich dabei um Eva. Heute sagen Bibelwissenschaftler: Nein! Es ist die Frau, die von Anfang der Schöpfung an mit dabei war: die Weisheit. Personifiziert in einer Frau.

Im biblischen Buch „Sprüche Salomos“ kommt Frau Weisheit selbst zu Wort.  „Ich war dabei“, sagt sie, „als Gott das Dach des Himmels baute, als er den Horizont über dem Meer bildete... Als er dann die Fundamente der Erde legte, stand ich ihm als Handwerkerin zur Seite.

Frau Weisheit, so erfahren wir, ist eine kluge Ratgeberin. Sie berät Einzelne, aber auch das Volk. Und sogar die Regierung. Man könnte sagen: sie ist so etwas wie die antike Lebenskunst in Person.

So ruft sie zur Verantwortung für die Schwachen und sagt: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“ Sie weiß: „Hochmut kommt vor dem Fall“. Und warnt davor, mit der eigenen Zukunft zu prahlen, denn: „Du weißt nicht, was der morgige Tag bringt.“ Sie findet, „dass ein Geduldiger besser ist als ein Starker“ und dass Gott es ist, der letztlich unsere Schritte lenkt.

Von Anfang an ist die Weisheit das weibliche Gegenüber zu Gott. Die göttliche Urkraft, die bis heute die ganze Schöpfung durchwebt.

Erstaunlich finde ich, dass es ein halbes Jahrtausend gebraucht hat, bis man sie auf Michelangelos Bild so wahrgenommen hat: als Frau an der Seite Gottes.

Uns heute, finde ich, hat Frau Weisheit in einer Zeit, wo so manches aus der Balance geraten ist, einiges zu sagen. Sie predigt keinen religiösen Moralismus. Sondern sie steht für eine Art dringend benötigter geistlicher Lebenskunst.
Torheit gibt es schließlich genug auf der Welt!

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