SWR2 Wort zum Tag

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01FEB2024
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Zeuge sein, ohne dabei gewesen zu sein. Das geht, und manchmal ist es sogar ganz wichtig. In meiner Arbeit in der Psychiatrie höre ich viele Lebensgeschichten. Da ist manches Schöne dabei, aber oft überwiegt das Schwere. Ich arbeite dort als Seelsorger, nicht als Therapeut. Und trotzdem hoffe ich, dass meine Arbeit für Menschen, denen ich begegne, heilsam ist. Was ich ihnen anbieten kann, ist mit ihnen zu sprechen. Wenn Sie das Angebot annehmen, höre ich ihnen möglichst aufmerksam und empathisch zu. Sie können mir erzählen, was sie beschäftigt. Und oft erzählen sie dann von Verletzungen oder von Schicksalsschlägen. Manchmal geht es auch darum, was ihnen in Ihrem Leben bisher gefehlt hat.

Ich höre zu und übernehme dabei auch die Rolle eines Zeugen. Ich bezeuge: Ja, Ihnen ist da Schlimmes passiert. Das, was da geschehen ist, war nicht richtig und hat Sie schwer verletzt. Dabei erinnere ich mein Gegenüber immer wieder daran: achten Sie gut auf sich. Erzählen Sie nicht mehr als Ihnen jetzt guttut.

Es erscheint erst mal nicht viel, was ich da tue. Aber ich bin sicher, dass es wichtig ist, dass meine Gesprächspartner einen Zeugen haben, der zuhört und anerkennt, was sie erzählen. Das gilt übrigens auch für schöne Erlebnisse. Wir brauchen andere Menschen, die würdigen, was wir erlebt haben. Das löst noch keine Probleme, aber oft erleichtert es für einen Moment und kann ein Schritt sein, dass sich etwas zum Besseren verändern kann.

Das gilt nicht nur bei meiner Arbeit, sondern auch für meinen Alltag. Wenn ich ehrlich bin, dann mache ich da oft nicht so einen guten Job. Vor allem wenn es nicht so wichtig erscheint. Wenn mein Sohn beim Videospielen ein besonders schönes Tor erzielt hat, dann berichtet er mir stolz davon und erwartet, dass ich mich mit ihm freue und stolz auf ihn bin. Oder ein Freund erzählt mir, dass ihn ein anderer Freund von uns gerade nervt. Da bin ich dann manchmal zu schnell dabei Lösungen anzubieten oder zu beschwichtigen. „Mach dir mal keinen Kopf, das renkt sich schon wieder ein.“ Lösungen suchen und Mut zusprechen ist sicher wichtig, aber vielleicht erst in einem zweiten Schritt und nur dann, wenn es überhaupt gefragt ist. Erst mal reicht es vielleicht auch, Zeuge zu sein.

Das Leben ist manchmal schwierig, aber immer wieder auch schön und es wird reicher und leichter, wenn wir uns das immer wieder gegenseitig bezeugen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39262
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