Anstöße sonn- und feiertags

Anstöße sonn- und feiertags

14JAN2024
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In diesen ersten Tagen im neuen Jahr kommen mir ganz grundsätzliche Fragen auch zu meinem Leben. Und dazu, wo ich gerade stehe. Manches lasse ich geklärt zurück, manche Lebensfragen habe ich ins neue Jahr mit hinübergenommen. Sie sind kompliziert, vielschichtig – und ich kann sie im Moment nicht lösen. Schon gar nicht, indem ich mir viele Gedanken mache. Dann komme ich im Kopf nur hierhin und dorthin – und aus dem Grübeln nicht mehr raus.

Meistens sind das Fragen, die eng mit mir persönlich zu tun haben. Und damit, wer ich eigentlich bin und was genau ich will. Deshalb finde ich nicht die eine einfache Antwort. Und vielleicht gibt es die ja auch gar nicht.

Der Dichter Rainer Maria Rilke war zu genau diesem Thema mal im Austausch mit einem jungen Kollegen. In einem Brief schreibt er ihm: „Ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten […], Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben“.

Die Lebensfragen selbst liebhaben. Mich spricht das sehr an. Es nimmt mir den Druck, alles sofort lösen, eine eindeutige Antwort finden zu müssen. Wenn ich erst mal nur bei den Fragen bleibe, habe ich viel mehr Zeit und Ruhe. Und vielleicht steckt ja wirklich schon in meinen Fragen ganz viel Wichtiges. Schließlich bin ich selbst es, der auf diese Fragen gestoßen ist. Es sind meine persönlichen Fragen – und die verraten immer auch was über mein eigenes Leben.

Wie das im Leben ganz praktisch aussieht, davon schreibt Rilke in seinem Brief auch. Er gibt seinem Gesprächspartner mit auf den Weg: „Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen.“

Mit anderen Worten: Wenn ich die Antwort auf meine innersten Fragen schon hätte, dann wäre das vielleicht gar nicht hilfreich für mich. Vielleicht würde ich sie nicht hören wollen oder sie wären jetzt noch zu groß und zu schwer für mich. Persönliche Entwicklungen geschehen mitten im Leben und brauchen viel Zeit. Und nicht nur der Kopf ist daran beteiligt, sondern auch das Herz – mit all seinen Gefühlen.

„Leben Sie jetzt die Fragen“, schreibt Rilke. Fragen sind ein lebendiger Teil des Lebens, nicht nur ein Störfaktor, den man mit einer schnellen Antwort rasch loswerden sollte. Und dann schreibt Rilke noch: „Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antwort hinein.“

Brief an Franz Xaver Kappus vom 16. Juli 1903, siehe https://www.rilke.de/briefe/160703.htm

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39134
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