Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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01JAN2024
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Wie heimlicher Weise

Ein Engelein leise

Mit rosigen Füßen

Die Erde betritt,

So nahte der Morgen.

Jauchzt ihm, Ihr Frommen,

Ein heilig Willkommen,

Ein heilig Willkomen!

Herz, jauchze du mit!

 

Das sind Zeilen des schwäbischen Pfarrers und Dichters, Eduard Mörike: Über den frühen Morgen des ersten Tages in einem neuen Jahr. Einem Morgen, wie heute.

Dieser frühe, frische Morgen einer neuen Zeit ist bei Mörike wie ein himmlisches Wesen, ein göttliches Geschenk: Ein heimlicher Engel aus einer anderen Wirklichkeit, mit rosigen, kindlichen und noch ganz empfindlichen Füßen, der zaghaft unsere irdische Welt betritt. Ich lese dieses kleine Gedicht gerne zum Jahresanfang – und gleichzeitig zögere ich, die Nachrichten im Radio zu hören, die jetzt im Anschluss ja auch gleich kommen – nach meinem kleinen Impuls. Die werden natürlich aktuell sein, aber trotzdem nicht wirklich neu oder überraschend. Nicht leise und rosig, und sie werden ganz sicher keinem Engel gleichen. Nein, laut werden sie sein – nicht nur, weil es vielleicht wieder Unfälle mit Silvesterböllern gegeben hat. Vielleicht ist das Geschäft mit Feuerwerk gut gelaufen – das wäre wenigstens für manche eine halbwegs gute Nachricht. Aber es gibt sicher auch wieder neues von den Kriegen und Krisen zu berichten…

Wie heimlicherweise ein Engelein leise mit rosigen Füßen die Erde betritt… Mörike redet in seinem Gedicht von etwas anderem als den altbekannten irdischen Nachrichten, denke ich. Von dem himmlischen Geschenk aus einer anderen Wirklichkeit: Gott schenkt den neuen Tag, und der besteht eben nicht nur aus den alten Nachrichten, sondern vor allem aus unberührter Zeit, die noch ganz rein ist und nicht vergiftet von Hass, Gewalt oder Katastrophen. Die Zeit, die uns geschenkt ist, ist ein Wunder, und es ist völlig offen, wie sie sich füllen wird. Der Tag öffnet sich wie ein weiter Raum – und da ist noch so viel Platz für Hoffnung, Erwartungen, Wünsche, Pläne und Träume. Krisen und Kriege, gute und schlechte Nachrichten scheinen unser Leben festzulegen. Ein neues Jahr, ein neuer Morgen ist aber mehr als das: Er ist ein göttliches Geschenk aus einer anderen Wirklichkeit: Ein Morgen, der neue Freiheit bringt, neue Möglichkeiten: Hoffnung eben. Deshalb – mit Mörikes Worten:

Jauchzt ihm, Ihr Frommen,

Ein heilig Willkommen,

Ein heilig Willkomen!

Herz, jauchze du mit!

 

Eduard Mörike (1804 - 1875)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39090
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