SWR2 Zum Feiertag

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25DEZ2023
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Eine Weihnachtskrippe versammelt viele verschiedene Menschen und Tiere. Da ist zunächst einmal das übliche Personal: Maria, Josef, das Jesuskind, Ochs und Esel, Schafe und Kamele. Dann sind da die Hirtinnen und Hirten und die drei Weisen aus einem fernen Land im Osten. In diesem Jahr habe ich noch zwei andere Figuren symbolisch dazu gestellt. Es sind zwei junge Männer aus Eritrea. Sie haben mir in diesem Jahr einen besonderen Weihnachtsmoment geschenkt. Und das kam so:

Ich bin abends nach der Arbeit mit meinem Fahrrad noch zum Supermarkt gefahren und habe eingekauft. Als ich bezahlen will, kann ich meinen Geldbeutel nicht finden, obwohl ich überall suche. Hosentaschen, Manteltaschen, Rucksacktaschen. Nichts. Meine Geldbörse ist wie vom Erdboden verschwunden. Nachdem ich noch zweimal alles abgesucht und sogar den Rucksack ausgeleert habe, wird mir klar: Die Geldbörse ist weg, mit allen Bankkarten, mit Personalausweis, Bargeld und allem Drum und Dran.
„Tief ein- und ausatmen!“, ermahne ich mich selbst. „Sonst flippe ich aus!“

Mehrfach bin ich danach mit dem Fahrrad die Strecke von meinem Büro zum Supermarkt und wieder zurück abgefahren, obwohl es geregnet hat und ich kaum etwas gesehen habe. Aber mein Geldbeutel bleibt verschwunden. Ich versuche mich zu beruhigen: „Es gibt Schlimmeres auf der Welt!“, sage ich mir. Aber der Gedanke tröstet mich nicht. Schließlich entscheide ich mich, erst einmal nach Hause zu fahren und mir einen Kamillentee zu kochen. Einmal durchschnaufen, dann zur Polizei gehen, um den Verlust zu melden. Dann Bankkarten sperren und sich darauf einstellen, dass alles ewig dauern wird, bis ich meine Papiere wieder zusammen habe.

Der Tee zieht noch, als es bei mir an der Tür klingelt. Zwei junge Männer, beide „Person of Color“, also mit dunkler Hautfarbe, grüßen mich freundlich und fragen mich nach meinem Namen. In der Hand halten sie meinen Geldbeutel, den sie irgendwo auf der Straße gefunden haben. Die beiden lachen mich an, und ich hätte sie umarmen können.

Beide erzählen mir stolz, wie sie mit Hilfe meines Personalausweises meine Adresse herausgefunden haben. Für sie sei es eine Ehrensache, extra den Umweg zu mir nach Hause zu machen, um mir den Geldbeutel persönlich zu überreichen. Wir unterhalten uns noch eine Weile. Sie heißen Luam und Jemal und sie kommen aus Eritrea. Von dort sind sie schon vor etlichen Jahren geflohen, da sie aus politischen Gründen verfolgt worden sind. In Deutschland haben sie Sicherheit, Jobs und eine neue Lebensperspektive gefunden. Ich lade sie zu mir auf eine Tasse Tee ein. Aber da winken sie ab. Sie sind schon verplant für den Abend. Ich bedanke mich herzlich, gebe den beiden ein ordentliches Trinkgeld in die Hand, dann ziehen die beiden fröhlich ihrer Wege.

Ich schaue ihnen nach und denke: Luam und Jemal werden auf der Straße vermutlich häufiger von der Polizei kontrolliert als Paul und Ben von nebenan. Und wahrscheinlich hätte auch ich selbst sie eher kritisch beäugt und misstrauisch auf meine Geldbörse aufgepasst. Der Gedanke beschämt mich. Und gleichzeitig - und umso mehr - feiere ich diesen Moment der Freude: Denn diese beiden jungen Männer sind an jenem verregneten Abend für mich definitiv zu meinen persönlichen Weihnachtsboten geworden. Sie haben mich an den Geist von Weihnachten erinnert: An Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit.

Diese Erfahrung zeigt: Jedes Jahr beziehen ganz unterschiedliche Menschen die Weihnachtsbotschaft auf ihr eigenes Leben und werden dadurch selbst zum Teil der Weihnachtsgeschichte. Auf diese Weise kommen zum ursprünglichen Krippenpersonal immer wieder andere Menschen hinzu: Geliebte Menschen, die wichtig sind im Leben und ohne deren Einsatz so ein Weihnachtsfest gar nicht funktionieren würde: Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern nachts auf der Intensivstation. Personal in Bussen und Bahnen, in diakonischen Einrichtungen und Schulen, in der Dienstleistung und in Betrieben. Die Hebamme, die bei der schwangeren Frau ist, wenn sie das Kind gebiert. Sozialarbeitende, die Drogensüchtige oder Wohnungslose unterstützen. Polizei, Feuerwehr und so viele andere, die haupt- oder ehrenamtlich dafür sorgen, dass menschliches Zusammenleben gelingt, und zwar mit Kopf, Herz und Hand.
Und so kommt auch Jesus jedes Jahr in der Heiligen Nacht auf die Welt - mitten hinein ins konkrete Leben.

Damit werden diejenigen, die Weihnachten feiern, zu modernen Hirtinnen und Hirten, die - wie damals - von den Engeln gerufen werden und die Geburt Jesu bezeugen.

In diesem Jahr sind das für mich Luam und Jemal aus Eritrea und für Sie mögen es andere sein, die mit an der Krippe stehen und die Weihnachtsbotschaft in ihr Lebensumfeld bringen. Ihnen allen wird an Weihnachten zugerufen: „Fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch große Freude. Gott ist Mensch geworden und bringt Licht und Hoffnung in die Welt!“

Diese Weihnachtsbotschaft wird auch in den vielen Krippen weltweit immer wieder neu dargestellt. Und damit kommt die Weihnachtsgeschichte tatsächlich ganz handfest auf die Marktplätze und in die Wohnzimmer der Menschen. Mit Holzfiguren, Krippe und Stroh, Ochs und Esel und dem Stern über dem Stall.

Die Krippendarstellungen spiegeln dabei ganz selbstverständlich das jeweilige soziale Umfeld, die Region und Kultur. Da wird Jesus zum südafrikanischen, mexikanischen oder koreanischen Baby. Das ist nicht nur Folklore, sondern zeigt eindrücklich und konkret: Gott wird an Weihnachten einer von uns, nimmt menschliche Gestalt an, bekommt menschliche Züge, und die sehen dann halt auch so aus wie die Menschen: ganz verschieden.

Deshalb finde ich die Krippendarstellungen in der Advents- und Weihnachtszeit auch so spannend. Es berührt mich, mit wie viel Liebe diese Krippen geschnitzt, bemalt, aufgestellt und mit Figuren gefüllt werden. Erst sind es nur Ochs und Esel und ein paar Hirten auf dem Feld. Maria und Josef kommen am Heiligen Abend dazu und das Jesuskind wird in der Heiligen Nacht dazugelegt. Danach kommen die Hirten und schließlich am 6. Januar die drei Weisen aus einem fernen Land im Osten. Über allem wacht der Stern und die Tiere, die alles im Blick behalten.

In manchen Städten gibt es ganze Krippenwege durch die Innenstädte. Dort werden in der Adventszeit Krippen von ganz verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern aufgestellt. Ich erinnere mich an eine Krippe, die auf einem Rettungsboot voll mit Geflüchteten auf dem Wasser stand, eine andere Krippe hat mitten auf einer Müllhalde gelegen. Es gibt Krippen in Zelten, in Iglus, in einem Hochhaus oder in einer Garage. Diejenigen, die die Krippen bauen, orientieren sich an ihren eigenen Lebensorten.  

Es sind aber nicht nur die Orte der Krippen, die von alters her an verschiedene Lebensorte in der ganzen Welt versetzt worden sind.

Es sind auch die Hauptfiguren der Geschichte, die dem eigenen Lebensumfeld angepasst werden. Da gibt es Figuren eingepackt in dicke Mäntel und mit Gesichtern von Inuit, also von den Menschen, die im Norden Kanadas leben. Es gibt Figuren mit asiatischen Gesichtszügen, die Saris und Seidentücher tragen. Es gibt Figuren mit Alltagskleidern, die auch ich tragen könnte: Jeans, Pullover, Sportschuhe in einer Wohnung irgendwo in Europa. Und dann gibt es Figuren, deren Haut schwarz ist und die vor afrikanischen Zelten das neugeborene Kind bestaunen und feiern. Und es gibt dunkelhäutige Menschen vor einem Beduinenzelt oder einer einfachen Unterkunft, wie sie auch heute noch in Bethlehem zu finden sind. Die Gesichtszüge sind verschieden. Aber allen steht die Freude über das neu geborene Kind ins Gesicht geschrieben.

„Ja“, sage ich mir, „so kommt die Weihnachtsbotschaft immer wieder neu in die Welt.“ Indem überall auf der Welt der Stern von Bethlehem in die Leben der Menschen hineinleuchtet und von etwas Besonderem erzählt. Von einem einfachen Kind, das geheimnisvoll und wehrlos zu sein scheint und von dem trotzdem ein intensives Licht und eine besondere Kraft ausgeht.

Die Geschichte erzählt von der Zuversicht, dass nicht Militärmacht und Gewalt, sondern ein friedliches und respektvolles Miteinander, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit wichtig sind im Leben. Egal ob die Weihnachtsboten Hirten aus Bethlehem sind oder Luam und Jemal aus Eritrea, egal ob sie aus Nazareth, Bangkok oder Buenos Aires kommen, egal ob sie schwarz sind oder weiß, jung oder alt, männlich, weiblich oder divers, queer oder hetero. Sie alle werden zu Botinnen und Boten dieser wunderbaren Geschichte von dem Kind in der Krippe.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen friedliche und gesegnete Weihnachten!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39050
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