SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

31DEZ2023
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Auf dem Flur vor meinem Büro steht eine altehrwürdige Standuhr aus Holz. Sie sieht schön aus, aber das Uhrwerk hat schon lange seinen Dienst quittiert. Zwecklos steht sie da und erzählt nur noch von vergangenen Zeiten. Ein Spaßvogel hat sie irgendwann einmal eingestellt. Sie zeigt jetzt 5 vor 12. Immer. Manchmal spüre ich die Warnung, den Aufruf, der in dieser Uhrzeit steckt: Die Zeit läuft davon! Manchmal muss ich aber auch schmunzeln. Ich weiß ja, dass der Zeiger nicht weiter geht. 

Heute Nacht wird das anders sein. Kurz vor Mitternacht werde ich irgendwo mit Freunden stehen und diese ganz eigene Silvesterspannung spüren. Hektisch eingegossene Sektgläser. Parat gelegte Wunderkerzen. Und dann die Zeiger der Kirchturmuhr beobachten und die letzten fünf Minuten runterzählen. Sie werden ganz gewiss vergehen, bis ein Gemisch aus Feuerwerk und Kirchenglocken das neue Jahr ankündigt. Und ganz sicher werde ich mir auch eine Träne wegwischen. An Silvester bin ich melancholischer als im Rest des Jahres.

Am letzten Tag des Jahres stehen mir die Momente und Zeiten des zu Ende gehenden Jahres nochmal deutlich vor Augen. An Silvester spüre ich alles gleichzeitig. Das Staunen über die vielen schönen Momente, die mir das Jahr geschenkt hat. Die Trauer über die schweren Momente, als ich Abschied nehmen musste. Als Hoffnungen zerbrachen und Leben zu Ende gegangen ist. Ich spüre die Leere in der Ecke in meinem Herz, in dem so vieles offen geblieben ist. Direkt daneben sitzt die Dankbarkeit für schöne Zeiten. An Silvester spüre ich das alles gleichzeitig. In der Bibel ist das großartig in Worte gefasst.

Alles hat seine Zeit,
Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;
herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.
(Prediger 3)

Alles hat seine Zeit. Aber nicht alle Zeiten sind deswegen gleich. Mir gefällt der Gedanke, dass Gott uns die Ewigkeit ins Herz gelegt hat – dass wir sie aber nicht ergründen können. Manchmal kann ich das spüren: In meinem Herz ist so viel Platz für mehr als für die Dinge, wie sie sind. Da ist Platz für Sehnsucht nach mehr Halt, mehr Frieden, mehr Liebe, da ist Energie für Dinge, die Mut und Entschlossenheit und Gottvertrauen brauchen. Mein Herz ist der Ort, in den Gott die Fenster zur Ewigkeit gesetzt und geöffnet hat. Nichts von dem, was mir im letzten Jahr den Kalender gefüllt, viel Lebenszeit gekostet und manchmal auch genommen hat, nichts von dem, was mich oft über Tage in Beschlag genommen hat, hat grenzenlose Bedeutung. Alles, was passiert, hat einen Anfang und ein Ende. Nur Gottes Ewigkeit ist anders. Der Prediger in der Bibel, der uns diese poetischen Worte geschenkt hat, zieht daraus eine klare Folgerung: Was uns am Ende bleibt, ist: fröhlich sein und sich gütlich tun im Leben.

Leichtigkeit in die Füße und ins Herz – auch am dünnhäutigsten Abend im Jahr. Das ist mal eine Ansage. Und ich lasse sie mir gern sagen. So kommt Luft in die Melancholie. Und über die vielen unterschiedlichen Zeiten des letzten Jahres weht ein frischer Wind.

Am Ende hält Gott jeden Augenblick in der Hand. Am Ende und von allem Anfang an hat alles seine Zeit aus Gottes Ewigkeit.

Dass ich daran glaube, führt auch dazu, dass sich am letzten Abend des Jahres mein Blick weitet. Weg von mir und dem, was mich beschäftigt hat, hin zu denen, die dieses Jahr so ganz anders beenden als ich. Hin zu denen, die so drängend und sehnsüchtig und konkret auf Frieden hoffen. Hin zu denen, bei denen jede Nacht begleitet ist vom Sausen und Pfeifen der Raketen und von der Angst um das eigene Leben. Hin zu denen, die an diesem Abend und an allen anderen Abenden des Jahres einsam sind und längst niemanden mehr haben, der ihnen ein freundliches Wort und Zuwendung schenkt.

Hin zu denen, die sich mit Sorgen fragen, wie das neue Jahr werden wird und wie sie über die Runden kommen. Hin zu Ihnen, mit welchen Gedanken und Gefühlen auch immer Sie diesen Tag heute begonnen haben. Ich glaube: Auch Sie sind in Gottes Ewigkeit aufgehoben. Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Blick zurück und gesegnete Schritte in ein gutes Jahr 2024.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39034
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