SWR Kultur Lied zum Sonntag

SWR Kultur Lied zum Sonntag

10DEZ2023
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Ein Mensch am Boden. Der Rücken krumm, die ganze Haltung in sich gekehrt. Der Blick gesenkt. „Incurvatus in se ipsum“, wie Martin Luther sagen würde, ein in sich selbst gefangener Mensch. Doch dann steht sie auf. Richtet ihren Körper auf. Hebt den Kopf, schaut nach oben, breitet vielleicht sogar in einer weit ausholenden Geste beide Arme aus. So steht sie da. Und folgt mit ihrer Bewegung dem biblischen Leitmotiv für diesen zweiten Sonntag im Advent. Das steht im Lukasevangelium und heißt: „Richtet euch auf, ihr Menschen, lasst den Kopf nicht hängen und nehmt eure Zukunft aufrecht in den Blick. Denn eure Erlösung kommt bald!“ Eins der neueren Adventslieder ahmt diese Bewegung musikalisch nach. Mit seinen ersten Tönen steigt es in drei aufeinanderfolgenden Quartsprüngen vom Boden in den Himmel auf:

Das Volk, das noch im Finstern wandelt – bald sieht es Licht, ein großes Licht.
Heb in den Himmel dein Gesicht und steh und lausche, weil Gott handelt.

Die ihr noch wohnt im Tal der Tränen, wo Tod den schwarzen Schatten wirft:
Schon hört ihr Gottes Schritt, ihr dürft euch jetzt nicht mehr verlassen wähnen.

Auch mit seinen Worten folgt das Lied einem biblischen Grundton: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finsteren Lande, scheint es hell!“ Es ist der Auftakt zur großen Friedensvision des Propheten Jesaja, die in jeder Adventszeit neu ihre Stimme erhebt und ihre Kraft entfaltet.
Seht auf, steht auf, richtet euch auf, fasst neuen Mut, macht Augen und Ohren auf: Eure Erlösung kommt bald!

Er kommt mit Frieden, nie mehr Klagen, nie Krieg, Verrat und bittre Zeit!
Kein Kind, das nachts erschrocken schreit, weil Stiefel auf das Pflaster schlagen.

Die Liebe geht nicht mehr verloren. Das Unrecht stürzt in vollem Lauf. Der Tod ist tot.
Das Volk jauchzt auf und ruft: „Uns ist ein Kind geboren!“

Die Bilder zu diesen Strophen habe ich gerade erst gesehen. Sie kamen aus Israel, aus dem Land, in dem der Prophet Jesaja sie als erster beschworen hat: Aufjauchzende Mütter und Väter habe ich gesehen, die ihre Kinder nach einer Höllenfahrt der Ungewissheit endlich wieder in die Arme schließen, nachdem sie aus den unterirdischen Gefängnissen der Geiselnehmer frei gelassen wurden. Augenblicke des Friedens mitten in einem Krieg. Lichtblicke inmitten der Dunkelheit, die Israelis und Palästinenser auch weiterhin gefangen hält. Eine Vorahnung, ein kleines Zeichen, wie eine Zukunft in Frieden aussehen könnte.

Ich will daran glauben, dass diese Friedenszeit kommt: „Es kommt der Friede. Nie mehr Klagen, nie Krieg, Verrat und bittere Zeit. Kein Kind, das nachts erschrocken schreit, weil Stiefel auf das Pflaster schlagen.“ Durch alles Gedröhn hindurch will ich auf diesen anderen Ton hören: „Schon hört ihr Gottes Schritt, ihr dürft euch jetzt nicht mehr verlassen wähnen.“

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Musikangaben:
Text: Jürgen Henkys (1981) nach dem Niederländischen „Het volk dat wandelt in het duister“ von Jan Willem Schulte Nordholt (1959)
Melodie: Frits Mehrtens (1959)
Aufnahme: Kord Michaelis (Orgel) und Christine Marx (Gesang) 2023

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