Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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07DEZ2023
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Jeden Morgen sehe ich die „Gang“. So nenne ich die 7 Zweitklässler, die kurz nach halb acht am Fenster meines Arbeitszimmers vorbeiziehen. Sie gehen zur Schule, reden, schubsen sich, lachen. Vier Jungs und drei Mädchen. Was sie wohl für sich erhoffen? Und was sie wohl erwartet?

Was sie wohl an diesem Tag erwartet? In der zweiten Klasse ist für viele die Welt auch in der Schule noch in Ordnung. Jeden Tag gibt es Neues zu entdecken, jeden Tag gibt es etwas zu lernen und jeden Tag wird gelacht und gespielt. Wenn ich die „Gang“ beobachte, bete ich manchmal für die Kinder. Ich kann von weitem schon sehen, dass sie sehr unterschiedlich aufwachsen. Die Schulranzen und die Jacken, die sie tragen, sind bei den einen funkelnagelneu. Andere tragen wohl die Sachen der älteren Geschwister auf und ein Mädchen hat einen Diddl-Schulranzen, der ist eindeutig aus den 90ern. Ist das Vintage oder aus der Kleiderkammer der Diakonie? So unterschiedlich wird auch das sein, was sie erwartet, wenn sie dann wieder nach Hause kommen. Die einen haben ihr eigenes Zimmer, wo sie die Hausaufgaben am höhenverstellbaren Schreibtisch machen, die anderen sind im Mehrbettzimmer mit den Geschwistern. Wenn sie Glück haben, haben sie etwas Ruhe und einen Platz am Wohnzimmertisch, um ihre Hausaufgaben zu machen. Was erwartet sie wohl, die „Gang“, an diesem Tag und darüber hinaus?

Wie wird das Leben dieser 7-jährigen aussehen, wenn sie erwachsen sind? Was werden sie bis dahin erleben? Was erhoffen sie sich? Welche Werte werden ihnen wichtig sein? In welcher Welt werden sie leben? Wird es wirklich immer heißer? Werden ganze Teile der Welt überschwemmt sein, weil wir den Klimawandel nicht aufgehalten haben? Wird das so sein, weil es uns, den Jetzt-schon-Erwachsenen, so wichtig war, unseren eigenen Wohlstand unverändert zu leben? Wenn ich die „Gang“ beobachte, bete ich manchmal für die Kinder. Und ich weiß doch, dass das nicht ausreicht.

Werden sie vertrauen können, wenn sie denen nicht vertrauen können, die jetzt verantwortlich für sie und ihre Zukunft sind? Werden sie an Werte glauben, oder nur an das Recht des Stärkeren?

Jesus stellt einmal ein Kind mitten unter alle Erwachsenen und warnt sie: Wer auch nur einen von diesen kleinen Menschen vom Vertrauen abhält, der hätte es verdient, mit einem Mühlstein am Hals ins Meer gestürzt zu werden. Manchmal denke ich daran, wenn ich die „Gang“ kurz nach halb acht an meinem Fenster vorbeiziehen sehe. Was sie wohl erhoffen? Was sie wohl erwartet? Und was ich für sie tun kann? Beten. Ja. Und ich weiß, dass das allein nicht ausreicht.

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