SWR3 Gedanken

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08DEZ2023
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Mein Bruder ist ein Sonnenschein – egal, welchen Raum er betritt, er schafft es in wenigen Minuten, die Menschen für sich zu gewinnen. Ich kann mich an kein Familienfest erinnern, an dem er nicht alle anheizt und ordentlich aufmischt. Immer ist was los mit ihm.

Im Zuge einer Fortbildung für die Arbeit hier beim Radio beschäftige ich mich mit einer Zielgruppenanalyse: Wer hört uns zu, wenn wir auf Sendung sind? Welcher Typ Mensch ist das so? Neun Typen werden uns vorgestellt. Und da entdecke ich ihn, meinen Bruder, unter den „Ambitionierten“ – so wird einer von ihnen genannt. Sein Motto ist „Mittendrin statt nur dabei“, er ist eben ambitioniert, also immer bei allem vorne dabei, optimistisch und selbstbewusst; aber mit einem großen Bedürfnis nach Struktur. Klar, das ist mein Bruder, denke ich mir.

Ich fotografiere die Kurzbeschreibung ab und schicke sie ihm zu mit dem Kommentar: Guck mal, ich hab dich bei einer Zielgruppenanalyse entdeckt!

Aber mein Bruder findet das gar nicht lustig – bei dem, was er mir zurückschreibt, habe ich sogar das Gefühl, er ist ein bisschen beleidigt. Das ist er gerne Mal, ja. Aber diesmal tut’s mir echt leid, denn er fühlt sich falsch beurteilt von mir. Ich habe ihn in die falsche Schublade gepackt, zu oberflächlich und materialistisch eingeschätzt; dabei hat er einen großen Familiensinn und kann so gar nichts mit Statussymbolen anfangen.

Solche Zielgruppenanalysen, solche Schubladen helfen mir, andere Menschen einfacher zu „fassen“ – zum Beispiel auch bei der Frage, wer mir da beim Radio wohl zuhört und was diese Menschen interessieren könnte. Aber Schubladen bleiben immer abgeschlossen und fertig – und das sind Menschen ganz und gar nicht. Um einen Menschen wirklich zu sehen, darf er nicht in eine dunkle Schublade gesperrt werden. Erst recht nicht, wenn er so hell scheint wie mein Bruder, der Sonnenschein.

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