SWR2 Wort zum Tag

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01DEZ2023
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Der Dezember ist für mich der Monat der Erwartungen. Ich habe zum Beispiel Erwartungen an mich selbst: Schöne Geschenke finden, einen geraden Weihnachtsbaum und überhaupt soll für Weihnachten alles gut vorbereitet sein.

Erwartungen gibt es auch bei der Arbeit: Jahresabschlüsse müssen vor dem Fest noch erledigt werden, Projekte sollen abgeschlossen sein, sodass man gut ins Neue Jahr starten kann. 

Grundsätzlich sind Erwartungshaltungen ja erstmal nichts Schlechtes. „Von dir erwarte ich nichts mehr“ – das will auch keiner hören. Dann ist man abgeschrieben, unwichtig.

Von wem etwas erwartet wird, der trägt Verantwortung für andere und für sich. Dem wird etwas zugetraut.

Aber mir verursacht das alles auch Stress. Denn manche Erwartungen von außen oder an mich selbst sind vielleicht auch ein bisschen überzogen. Ich spüre dann: Es gibt kaum noch Raum für Fehler, für schlechte Tage, für Müdigkeit.

In dieser Gemengelage hilft mir eine theologische Erkenntnis, die eigentlich kein gutes Image hat: „Alle Menschen sind Sünder“. So ein negatives Menschenbild will niemand vorgeführt bekommen: Der Mensch ist unvollkommen, macht Fehler, entfernt sich durch seine Verfehlungen von Gott.

Aber wenn man es mal andersherum betrachtet, kommt es bei mir so an: Wer Sünder, wer nicht perfekt ist, von dem kann man auch keine Perfektion verlangen.

Und das ist ja eine allgemein menschliche Erfahrung: Wir können nicht alles richtig machen, nicht allen Ansprüchen genügen. Diese Erkenntnis kann auch befreien. Befreien von dem Druck, überzogenen Erwartungen entsprechen zu müssen.

Wichtig dabei ist, finde ich, was Martin Luther auf die Formel simul iustus et peccator gebracht hat. Wir sind Sünder, aber gleichzeitig auch gerechtfertigt. Gott verzeiht uns unsere Unzulänglichkeiten, er verurteilt uns nicht für das, was wir nicht perfekt hinbekommen.

Ich finde, das befreit davon, mich an übertriebenen Erwartungen abmühen zu müssen. Ich muss mich nicht dafür fertig machen, dass manches nicht so klappt, wie andere sich das vielleicht vorstellen: in der Schule, bei der Arbeit, in der Familie. Und nehme mir vor: genauso wenig von anderen zu verlangen, dass sie alles perfekt hinbekommen. Vielleicht versuche ich es dieses Jahr mal mit dem Dezember als Monat der Unperfektheit. Und ich bin mir sicher: Weihnachten und das neue Jahr werden trotzdem schön.

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