SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

28NOV2023
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Eines Morgens auf dem Gehweg vor meinem Haus: Ein älterer Mann bewegt sich mit seinem Rollator am Gartenzaun entlang – langsam und vorsichtig. Der Kopf ist gesenkt.  Von der anderen Straßenseite ruft ihm ein Bekannter zu, der etwas jünger ist: „Und? Wie geht es dir?“ Darauf die einsilbige Antwort des Mannes: „Muss!“

Kein Innehalten, nur ein kurzer Blick zur anderen Straßenseite – und der alte Mann schiebt seinen Rollator weiter. Wie es ihm geht? Nicht gut, nicht schlecht. Nur: „Muss!“
Das Wort hat mich getroffen. Es kann für so vieles stehen. Vielleicht für sein derzeitiges Befinden? „Ich will eigentlich gar nicht mehr, aber ich muss?“ Oder steht das „Muss“ sogar für sein ganzes Leben? „Alles war schon immer nur ein Müssen. Und jetzt natürlich erst recht - im Alter.“

Ja, was gibt es nicht alles, von dem Menschen sagen, sie müssen es: Aufstehen, Zähneputzen, zur Arbeit gehen. Für manche ist das ganze Leben ein ununterbrochenes „Müssen“. Bis hin zur Heirat und zur Familiengründung, sogar im Ruhestand. Das „Muss“ lastet auf manchen Menschen wie ein Joch, wie ein Zwang, dem sie sich nicht entziehen können. Auch mir ist dieses Lebensmuster in die Wiege gelegt worden: Pflichten erfüllen – arbeiten! Das macht das Leben aus.

Erst später habe ich an Christinnen und Christen eine andere Dimension von Leben kennengelernt: Es gibt auch etwas, das muss ich mir nicht mühevoll erarbeiten – das bekomme ich einfach geschenkt: Anerkennung, Liebe, Zuwendung, Trost. Wertvoller als alles andere. Diese Geschenke haben mein Erleben von Grund auf verändert.
Ich  m u s s  nicht mehr aufstehen, nein, ich wundere mich und staune:
ein  neuer Tag beginnt. Und ich bin wieder im Leben dabei!
Ich  m u s s  nicht die Augen öffnen – nein, ich kann es. Ich bin gespannt, welche Menschen ich sehen und hören werde. Was für eine Gnade ist das!

Die Adventsgeschichten in der Bibel, die von der Geburt von Johannes und Jesus erzählen, sind voll solcher Erfahrungen. Da werden zwei Frauen schwanger, ein junge und eine alte, ohne dass sie je damit gerechnet hätten: Elisabeth und Maria! Die beiden Frauen begegnen einander und tauschen sich über ihre Erfahrungen aus. Beide Kinder kommen zur Welt, Mütter und Kinder wohlauf – pure Gnade. Nicht das „Muss!“ durchwirkt diese Adventsgeschichten – sondern das überraschende Geschenk, die Gnade.

Schön, wenn wir unser Leben immer wieder als ein Geschenk erleben. Und nicht nur als permanenten Zwang. Auf dem Weg zum Weihnachtsfest kommt es wohl auch darauf an, genau dies zu spüren. Auch für diesen alten Mann. Ich wünsche uns wache Sinne für die großen Geschenke des Lebens.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38838
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