Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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09NOV2023
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Therese, genannt Tessi, ist acht Jahre alt und geht in Tübingen in die Grundschule. Im Rechnen ist sie gut. Eine Rechenstunde wird sie nie vergessen: „Die Lehrerin hat gesagt, wir sollen uns melden, wenn wir die Lösung wissen. Wer die richtige Antwort gesagt hat, durfte aufstehen“, so erinnert sich Therese Stern-Lawrence siebzig Jahre später an ihre Schulstunde im Jahr 1933. „Ich habe auch immer meine Hand gehoben, aber sie hat mich nie drangenommen. Und als ich die Einzige war, die noch gesessen ist, da hat sie gesagt: Das sind die Juden, die wissen gar nichts, die dreckigen Juden.“

 

Als am 9. November 1938, heute vor 85 Jahren, in ganz Deutschland die Synagogen brennen, jüdische Geschäfte geplündert und jüdische Menschen zusammengetrieben, geschlagen, getötet oder eingesperrt werden, ist Tessi mit ihrer Mutter bereits nach Palästina geflohen. Weil die Saat des Hasses, den ihre Lehrerin und viele andere gesät haben, aufgegangen war.

 

Die Lehrerin, so haben es auch andere Schülerinnen berichtet, ließ keine Möglichkeit aus, das jüdische Mädchen zu demütigen – und hetzte auch ihre Klassenkameraden gegen sie auf, ja forderte sie auf, sie zu schlagen. Am Ende hatte Tessi keine Freunde mehr.

Die schlimmen Erfahrungen von Therese Stern-Lauwrence, die 2013 in Florida gestorben ist, beschäftigen mich. Weil sie zeigen, wie hilflos Kinder der Hetze von Erwachsenen ausgeliefert sind. Das gilt für die Opfer – und auch für die, denen der Hass schon früh ins Herz gepflanzt wird.

 

Die Geschichte von Therese Stern-Lawrence erinnert mich daran, wie entscheidend es ist, was wir Kindern erzählen und vorleben. Und wie wir in ihrer Gegenwart mit und über andere Menschen sprechen. Und wie wichtig es gerade heute wieder ist, aller Art von Hass und Hetze – gerade auch gegen Jüdinnen und Juden – sofort zu widersprechen. Wir alle haben eine große Verantwortung. Denn das, was wir in Kinderherzen säen, wird wachsen.

Aber ich finde: Eigentlich ist das auch eine gute Nachricht. Was wir säen, wird wachsen – das gilt ja genauso für Menschlichkeit, für gegenseitiges Verständnis und für Respekt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38746
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