Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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06NOV2023
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Älter werden hat auch was für sich – habe ich festgestellt. Und zwar bei meinem Klassentreffen neulich: 30 Jahre Abitur.

Als ich mich dorthin auf den Weg gemacht habe, hatte ich gar keine große Lust auf das Treffen. 30 Jahre – das ist echt lange her. Mit vielen ist der Kontakt schon lange abgebrochen. Ob man sich überhaupt etwas zu sagen hat? Heute bin ich froh, dass ich da war. Nicht nur, weil es dann doch ein schöner Abend war. Sondern auch, weil ich diese schöne Erkenntnis hatte: älter werden hat auch Vorteile.

In unserem Abiturjahrgang ist es wie in wohl jeder Abschlussklasse. Einige haben das gemacht, was man als „Karriere“ bezeichnen könnte. Die Mehrzahl lebt ihr durchschnittliches Leben. Manchen geht es nicht gut. Aber beim Erzählen ist auch klar geworden: Im Laufe ihres Lebens hatten fast alle schon mit mehr oder weniger großen Schwierigkeiten zu kämpfen: Trennungen, Krankheiten, psychische Probleme, familiäre Sorgen, berufliche Tiefpunkte. Manches ist überwunden, anderes nicht. Und ich hatte den Eindruck: Jetzt, mit rund 50, ist allen bewusst, dass das zum Leben dazugehört. Dass man sich deshalb gegenseitig nichts vormachen muss, sondern offen sagen kann, wie es ist.

Die Schriftstellerin und Christin Luise Rinser hat diese entlastende Erfahrung so beschrieben: Schön ist es, älter zu werden, schreibt sie, erlöst von sich, von der gewaltigen Anstrengung, etwas zu werden, etwas darzustellen in dieser Welt. Gelassen sich einfügen, irgendwo, wo gerade Platz ist, und überall man selbst zu sein und zugleich weiter nichts als einer von Milliarden.

Ob diese Gelassenheit mit dem Alter noch zunimmt? Ich hoffe es. Ich hoffe, dass ich Jahr für Jahr mehr verstehe, dass mein Leben seinen Wert schon in sich trägt – unabhängig von dem, was ich tue. Darauf zu vertrauen, bedeutet für mich übrigens: glauben.

Jedenfalls fühlt es sich gut an, so zu leben, weiß Luise Rinser: Heute fürchte ich nichts, schreibt sie, heute zeige ich mich freimütig, schutzlos dem Tag, … und wage, mich zu freuen … weil ich lebe, weil ich auf eine Art lebe, die nur ich weiß und kann, ein Leben unter Milliarden, aber das meine, das etwas sagt, was kein anderes sagen kann. … Dies alles, in vielen Worten gesagt, dauert zu fühlen drei, vier tiefe Atemzüge lang. Sagt Luise Rinser. Gerne will ich das auch fühlen.

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