Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

23OKT2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

In der französischen Stadt Chartres steht eine berühmte Kathedrale. Aber am berühmtesten ist gar nicht das Gebäude selbst, sondern das Labyrinth auf dem Boden in der Kirche. Ein Labyrinth ist kein Irrgarten, bei dem man die Orientierung verlieren soll, sondern ein verschlungener Weg ohne Abzweigungen oder Sackgassen. Im Labyrinth wechselt man zwar immer wieder die Richtung, aber am Schluss kommt man auf jeden Fall ans Ziel, und dieses Ziel ist im Zentrum.

Weil Wegschleife an Wegschleife liegt, sind es insgesamt 261 Meter und 50 Zentimeter, die man zurücklegen muss. Ich bin das Labyrinth in Chartres einmal gelaufen und ich kann Ihnen sagen: Das zieht sich ganz schön. Gerade hat es noch so ausgesehen, als wäre man am Ziel, da muss man plötzlich wieder abbiegen und ist gefühlt ganz am Anfang. Nah dran und weit weg mischen sich ununterbrochen. Am Schluss ist es dann geradezu eine Überraschung, dass man gerade jetzt den kleinen Platz im Mittelpunkt erreicht hat.

Auf diesen verschlungenen Pfaden kann jede und jeder auch die eigenen Lebenswege erkennen. Denn die sind allzu oft ja auch keine gut ausgebaute, gerade Strecke, die wir in kürzester Zeit meistern, sondern ein Vor und Zurück, ein Nicht-wirklich-Wissen, wohin es geht. Diese Botschaft des Labyrinths von Chartres erschließt sich ziemlich schnell. Die zweite Botschaft hat mich beim Gang durch das Labyrinth mehr überrascht: Da stehst du also in der Mitte, bist angekommen nach 261 Metern und 50 Zentimetern, und jetzt? Jetzt musst du die gleiche Strecke auch wieder zurücklaufen, damit du das Labyrinth wieder verlassen kannst. Das ist zwar einerseits logisch, aber trotzdem schwer auszuhalten. Da stehst du am Ziel und musst feststellen, dass das Ziel nur eine Etappe war auf dem Weg zurück. Will sagen: So lange wir leben, bleibt unser Leben ein Weg. Es ist schön, im Mittelpunkt zu stehen, aber nicht von Dauer. Nach dem Ziel geht es weiter.

Bei den vielen Besucherinnen und Besuchern der Kathedrale und des Labyrinths ist man übrigens niemals alleine unterwegs. Auf dem Hin- und auf dem Rückweg und in der Mitte begegnen wir anderen Menschen. Und auch dies lernt man im Labyrinth: Wir alle sind Weggefährten.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38639
weiterlesen...