Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

21OKT2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Es gibt Wörter, die dürfte es eigentlich nicht geben. Weil sie einen logischen Zusammenhang unterstellen, den es so gar nicht gibt. Ich habe eine ganze Liste solcher Wörter, die‘s lässig zum ‚Unwort des Jahres‘ bringen könnten.

Mein persönliches ‚Unwort‘ heißt derzeit ‚sozialschwach‘. So werden immer wieder Menschen bezeichnet, die wenig Geld zur Verfügung haben, von dem sie leben müssen. Das müsste ja dann aber ‚einkommensschwach‘ heißen. Und das ist etwas ganz anderes als ‚sozialschwach‘. 

Ich denke an eine Frau, mit der ich vor Jahren zu tun hatte. Eine ganz entfernte Nachbarin, ich nenne sie Helga. Kennengelernt habe ich sie auf dem Heimweg aus der Stadt. Ich hatte noch eingekauft, und meine Tasche war zu klein. Immer wieder fiel etwas  raus, und ich hatte Mühe, die Henkel noch sicher zu fassen. Eine fremde Frau überholte mich und bot mir an, einen Teil in ihrer Tasche den Berg hoch zu tragen. Beim Umpacken sah ich, dass sie nur Birnen in der Tasche hatte. Sie erzählte mir voll Freude, dass sie in einem Garten Birnen ernten durfte und bot mir auch gleich eine an. „Kaufen könnte ich mir die nicht“, meinte sie, „die kosten ja über 3 Euro das Kilo!“. „Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder“, sagte sie später, als ich mich dankend verabschiedete, und sie setzte lachend hinzu: „Ich hab meistens eine leere Tasche dabei, die können Sie gern mitbenutzen.“  

Von wegen ‚sozialschwach’! Nur weil Helga mit wenig Geld auskommen muss. Dabei ist sie gerade in sozialer Hinsicht doch alles andere als schwach. Sie sieht, was mir fehlt und hilft mir sofort. Sie ist stark, viel stärker als viele, die viel mehr Geld zum Leben haben. Natürlich gilt das nicht für alle Menschen, die materiell arm sind. Auch bei ihnen gibt es Neid und Egoismus. Denn sie sind nicht schon deshalb, weil sie arm sind, die besseren Menschen. Aber das müssen sie auch nicht. Auch bei Menschen mit viel Geld kann man ja nicht erwarten, dass alle großzügig und sozial eingestellt sind.

So gesehen gibt es ‚sozial schwache‘ Menschen in allen Schichten. Und deshalb ist es völlig daneben, von ‚sozialschwach‘ zu reden, wenn man eigentlich ‚einkommensschwach‘ meint. Denn das ist nicht nur sachlich falsch, sondern auch persönlich diskriminierend. Ein Unwort eben. 

 

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38586
weiterlesen...