SWR2 Wort zum Tag
Gleich zu Tagesbeginn wage ich es mit ein paar Sätzen, die ich unglaublich finde; sie stehen in einem aufregenden Tagebuch, rund 80 Jahre alt. Hier der Wortlaut: „Ich werde dir helfen, Gott, dass du nicht in mir zugrunde gehst … Aber eines wird mir immer klarer: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns selbst.“ (620) So schreibt Etty Hillesum im Jahre 1942 in ihre Notizen - eine niederländische Jüdin, die die fortschreitende Judenverfolgung in Amsterdam miterlebt und selbst zu spüren bekommt. Hellwach ist sie, sie beobachtet genau, hilft, wo sie kann. Dem Tagebuch vertraut sie ihr Innerstes an, ihr ständiges Zwiegespräch mit Gott – und das stärkt ihr den Rücken bis zuletzt. Noch die letzte Postkarte aus dem Güterwaggon nach Auschwitz beweist es, vor genau 80 Jahren.
Diese Etty Hillesum nimmt das ganze Leben ins Gebet. Offenkundig schmerzhaft hat sie Abschied genommen von der Vorstellung eines Helfergottes, der unmittelbar eingreift und alles gleich zum Guten wenden kann. Nein, allmächtig, ein Alles-Könner ist dieser Gott gerade nicht, und zaubern kann er auch nicht. Es gilt viel mehr selbst Verantwortung zu übernehmen - für ihn, für uns selbst und für andere. Fast mütterlich nimmt Etty sich dieses hilflosen, bedürftigen Gottes an. Ohnmächtig ist er, so wie nur Liebe ohnmächtig sein kann. Wir können und dürfen Gott eben nicht als Ausflucht und Ausrede nutzen. Der wirkliche Gott sucht viel mehr uns als Mitliebende und Mitsorgende. Auch das Leiden und Mitleiden gehört dazu, Etty Hillesum beschreibt das nüchtern, fast müsste man sagen: schwesterlich – und immer voller Zuversicht, geradezu heiter. Nein „wir müssen dir helfen und dadurch helfen wir uns selbst“. ... „Ja, mein Gott“ – so fährt sie fort – „an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie sind nun einmal auch Teil des Lebens. Ich ziehe dich auch nicht zur Rechenschaft, du kannst uns später dafür zur Rechenschaft ziehen.“ Die junge lebenshungrige Frau erkennt ihre Verantwortung nicht nur vor Gott, sondern für Gott. Sie will ihm eine Bleibe erhalten im eigenen Leben und in ihrer Umwelt, sie sorgt sich um seine Zukunft. Deshalb macht sie Hass und Hetze nicht mit, sie geht auch nicht in den bewaffneten Widerstand, sie setzt viel mehr ganz auf die Macht des Guten und den Sieg der Gerechtigkeit. Sie setzt auf den ohnmächtig allmächtigen Gott, der sie ermächtigt. Ist nicht das eine Spiritualität mit Zukunft, könnte so ein erwachsener Glaube aussehen?
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