SWR2 Wort zum Tag

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09OKT2023
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Wann eigentlich entstehen Tagebücher? Was hat mich damals in jungen Jahren   umgetrieben, mich schreibend mit mir selbst zu beschäftigen? Gewiss war Neugierde und Entdeckerfreude im Spiel, aber auch die Not, mit mir selber klar zu kommen. Das Tagebuch als intime Clearing-Stelle. Wer bin ich, und wenn ja wie viele? In solch einer Lebenskrise schrieb Etty Hillesum ihr Tagebuch, das nun endlich ungekürzt auf Deutsch erschienen ist.  Sie war eine junge jüdische Frau, die im Amsterdam der Hitlerzeit ihren Weg suchte. Vor 80 Jahren ist sie, kaum 30-jährig, in Auschwitz ermordet worden. Ihr Tagebuch ist ein Dokument der Selbstfindung und der Zeitgeschichte, wie ich wenige kenne. Darin lese ich ziemlich am Anfang schon folgende Sätze: „In mir ist ein sehr tiefer Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber öfter liegen Steine und Schutt auf diesem Brunnen, dann ist Gott begraben. Dann muß er wieder ausgegraben werden.“ (132) So wird das ganze Tagebuch zu einem einzigen Gespräch mit Gott: Das ganze Glück der Liebe und des Lebens wird ins Gebet genommen, nicht zuletzt die zunehmende Not durch die Judenverfolgung der Nazis. Den verschütteten Gott ausgraben im eigenen Leben – das ist ein starkes Bild für diesen Mut, sich selbst zu entdecken und der Realität standzuhalten. Dabei wird ihr immer klarer, dass Gott verlässlich da ist, sonst wäre ja auch sie nicht da. Der Brunnen in mir - welch ein sprechendes Bild für unerschöpfliche Tiefe und ständiges Quellwasser. Zu Lebzeiten Hillesums hat übrigens niemand von ihren vielen Freundinnen und Freunden erfahren, aus welcher Quelle sie schöpfen lernte. So intim ist die Sache mit Gott. 

Etty Hillesum hat Ende 1942 aufgehört, Tagebuch zu schreiben, gezwungen und nicht freiwillig. Wie gern wäre sie Schriftstellerin geworden. Aber auch sie musste schließlich ins Durchgangslager Westerbork. So vielen, die dort interniert waren, hatte sie zuvor geholfen hatte. Nur wenige Briefe kann sie noch schreiben. Aber „Chronistin ihrer Zeit“ ist sie geworden, Zeugin dafür, was Menschlichkeit heißt in unmenschlichen Verhältnissen. Im Tagebuch ist mit zu erleben, wie bösartig die jüdische Bevölkerung von den deutschen Nazis immer härter schikaniert wurde. Etty Hillesum aber weigert sich ganz bewusst, in den bewaffneten Widerstand zu gehen. Ganz entschieden kämpft sie gegen jede Art von Hass, immer auf das Gute vertrauend trotz allem. Bis zuletzt bleibt sie hoffnungsvoll, dem Leben zugewandt und l hilfsbereit, wo immer nur möglich. „In mir ist ein sehr tiefer Brunnen. Und darin ist Gott.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38552
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