Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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03OKT2023
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Wenn ich mich auf Neues einlassen muss, kann das so schwierig sein. Denn das Neue hat meist mit Veränderungen zu tun, manchmal auch mit Brüchen und Abschieden. Und gleichzeitig ist es selbstverständlich Teil des Lebens, dass ich mit Neuem umgehen muss.

Ich kenne einige Leute, die von einem Tag auf den anderen durch die Wende ganz viel Neues erlebt haben und ihren Horizont radikal erweitern mussten und es auch getan haben. Achtzehn Jahre lang habe ich in Ostdeutschland gelebt, und da habe ich Mareike kennengelernt. Sie hat, wie ganz viele andere auch, viel auf sich genommen und riskiert.

Sie war meine Kollegin in der Schule. In den 90er-Jahren hat sich an den Schulen in Ostdeutschland ganz viel verändert. Da gab es keinen gültigen Lehrplan, und auch viele Schulbücher passten nicht mehr. Mareike hat sich in Windeseile in die neue Welt eingearbeitet, weil sie ihre Schüler gut aufs Abitur vorbereiten wollte. Auf eine Welt, die sie selbst nicht kannte.

Damals vor 34 Jahren haben so viele eine Revolution in Gang gesetzt und durchlebt, ohne zu töten. Sie haben von Freiheit geträumt und davon, eine eigene Meinung haben und sagen zu dürfen – und sind dann in einem neuen Staat aufgewacht. Sie haben die Herausforderung angenommen und sich dabei einen offenen Horizont bewahrt. Das diesjährige Motto aus Hamburg zum Tag der Deutschen Einheit heute – und das passt ja dann auch wieder – heißt: Horizonte öffnen.

Zum Glück gibt es viele, die genau das heute tun. Ich denke an meine Nachbarin Hasiye. Sie weiß, was es heißt, wenn man in einem anderen Land neu anfangen muss. Deshalb bringt sie geflüchteten Kindern Deutsch bei. Und heute steht Hasiye in der Moschee und begrüßt ihre Gäste. Denn heute ist auch Tag der offenen Moschee. Viele tausende Muslime öffnen die Türen ihrer Moscheen ganz bewusst am Tag der Deutschen Einheit. Weil auch sie ein Teil eben dieser Deutschen Einheit sind. 

Ich weiß, wir haben es oft schwer, gut miteinander umzugehen. Und genau deshalb machen mir Menschen Hoffnung, die sich mit offenem Horizont einbringen. Meine Freunde im Osten, damals wie heute, und die vielen Muslime heute. An sie denke ich. Und an alle, egal welcher Religion oder Nationalität, die in Umbrüchen einen weiten Horizont bewahren.

Ich kann mich auf Neues einlassen, auch auf das, was mir zunächst fremd erscheint. So wie Mareike und Hasiye. Alle, die ihren Blick und ihr Herz offen halten, leisten einen großen Beitrag für die Einheit in unserem Land. Was sie geschafft haben und immer noch schaffen, das feiere ich heute.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38529
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