SWR2 Wort zum Tag

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07OKT2023
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Meine Freundin hat mir ein Foto geschickt. Das geliebte Ferienhaus in Griechenland, seit Jahrzehnten im Besitz der Familie. Nach der Flutkatastrophe im August steht es direkt an der Abbruchkante, die der Fluss gerissen hat. Unbewohnbar. Alle sind traurig. Immerhin – niemand ist in der Gegend ums Leben gekommen. Wie kostbar das Leben ist – das wird einem bei solchen Katastrophen unmittelbar deutlich. Mit dem drohenden Verlust des Hauses ist ein Riss ins Lebensgebäude der Familie gekommen. Was bisher so selbstverständlich zur Familie gehörte, ein wunderbar gestaltetes kleines Familienparadies – das gibt es so nicht mehr. In solchen Momenten brauchen Menschen Trost. Einer findet sich im Buch des Propheten Jesaja: „Es soll wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat.“ Beim Propheten findet sich die Vision, dass Lücken zugemauert und Wege ausgebessert werden. Bedingungen dafür nennt der Prophet auch: Die Voraussetzung ist soziale Gerechtigkeit. „Klar“, sagt meine Freundin, „eine Ursache für die Flutkatastrophe ist der Klimawandel. Erst kam die Trockenheit, dann das Wasser, das hat der trockene Boden nicht verkraftet“. Das hat auch mit sozialer Ungerechtigkeit zu tun und mit der Ausbeutung der Schöpfung. Umgekehrt heißt das: Der Einsatz für soziale und Klima-Gerechtigkeit schafft Voraussetzungen dafür, dass wieder aufgebaut werden kann. Da werden Wege erneuert und Risse zugespachtelt, auch Risse in Lebensgebäuden. Und manche Lücken im Mauerwerk dürfen bleiben, weil sie Hoffnungszeichen sind. Wie das aussehen kann habe ich einmal selbst gesehen, in einem einst verlassenen und verfallenen Dorf, in das Menschen zurückgekehrt sind. In einem Häuschen war ein Feigenbaum durch ein Kellerfenster gewachsen. Seine Zweige waren ganz krumm von dieser Anstrengung. Aber sie hingen voller Früchte. Die neuen Besitzer haben den Baum so stehen lassen. Sie werden sich gedacht haben, dass ein Kellerraum ruhig luftig sein darf.

Der Baum hatte nicht aufgegeben, als alles andere aufgegeben war, und er hat durchgehalten, bis die Menschen wiederkamen.

Die Vision des Propheten mündet im Bild eines fruchtbaren paradiesischen Gartens, in dem Menschen friedlich wohnen dürfen. In diesem Garten, da bin ich mir ganz sicher, wächst ein Feigenbaum. Für meine Freundin, und für alle, die mit Rissen und Abbrüchen leben müssen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38519
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