Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

05OKT2023
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Die Bibel wurde lange Zeit falsch übersetzt. Die Übersetzer wollten eine Stelle beschönigen, wo Gott mit einem Geier verglichen wird und haben es mit „Adler“ übersetzt. Vermutlich, weil Geier Aas fressen und deshalb kein gutes Image haben.

Das hebräische Wort „näsär“ wurde also mit Adler übersetzt, obwohl es eigentlich Geier heißt. Doch Adler sind im damaligen Palästina selten. Und eine biblische Stelle, in der der kahle Kopf des Vogels beschrieben wird, zeigt: es kann eigentlich nur ein Geier gemeint sein. Adler sind nicht kahlköpfig.

Auch für mich ist das Bild eines Geiers für Gott fremd, und doch wurden diese Tiere damals in Israel bewundert. Weil sie im Flug so wahnsinnig schnell werden können. Weil sie eine riesige Flügelspannweite von fast drei Metern haben und in den Aufwinden der Wüste scheinbar mühelos und unglaublich ausdauernd kreisen können. Vor allem aber, weil sie ihre Jungen so fürsorglich aufziehen. Denn junge Geier sind Nesthocker und lernen erst mit etwa fünf Monaten zu fliegen. Da ein Geierpaar aber im Jahr nur jeweils ein Junges aufzieht, können die Eltern ihm geduldig das Fliegen beibringen. Sie flattern über ihm, während es seine Flugversuche macht, und wenn es abzustürzen droht, fliegen sie darunter und lassen es auf den eigenen Flügeln landen.

Ein berührendes Bild. Und mir wird klar, warum die Menschen den Vers in der Bibel so schätzen, wo Gott sagt: Ihr habt gesehen (...), wie ich euch auf Geierflügeln getragen und zu mir gebracht habe. (Ex 19,4)

So ist Gott für die Menschen. Er fängt und trägt mich. Und das, obwohl ich es oft gar nicht merke. Besonders dann nicht, wenn ich das Gefühl habe, das meine Kraft nicht reicht oder ich fürchten muss, dass ich innerlich ohne Halt in die Tiefe stürze. In solchen Zeiten merke ich von Gottes tragenden Flügeln oft nichts. Und das kann auch lange Zeit so sein. Doch spätestens im Rückblick habe ich irgendwann dann doch immer gespürt, dass mir – wo ich eben noch ganz kraftlos war – neue Kraft zufließt. Dass es wieder aufwärts geht und ich nach und nach aus eigener Kraft weiterfliegen kann. [1]

[1]Vgl. dazu: Annette Jantzen, gotteswort_weiblich (Instagram-Post am 19. Juni 2023)

Und: Geier in der Bibel: https://www.bibelwissenschaft.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/geier

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38511
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