SWR4 Abendgedanken

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05SEP2023
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Ich habe heute noch die Worte meines früheren Deutschlehrers im Ohr. Er hat zu uns Schülern immer gesagt: „Im Leben wird einem nichts geschenkt, man muss sich alles verdienen“.

Heute denke ich: Er hatte Unrecht. Die Wahrheit ist: Im Leben wurde mir ganz viel geschenkt, ohne dass ich es verdient habe. Dass ich hier in Deutschland geboren wurde, zum Beispiel, und nicht in Bachmut in der Ukraine. Ich lebe in Sicherheit und Frieden, aber die Menschen aus Bachmut haben längst im Krieg gegen Russland ihre Häuser verloren und viele auch ihre Kinder oder Eltern oder das eigene Leben. 

Ich bin geborgen in einer Familie und durfte die Schule besuchen. Ich hätte ja auch in Kutupalong, in Bangladesh geboren werden können. Dort steht das größte Flüchtlingslager der Welt. In diesem Lager leben etwa 650.000 Menschen. Sie sind auf der Flucht vor Bürgerkrieg, heimatlos und ohne Zukunft. 

Ich musste auch nie Hunger leiden, ich hatte immer etwas auf dem Teller. Meisten viel mehr, als ich eigentlich gebraucht habe. Ich hätte auch im Tschad geboren sein können. Dann hätte ich zu den 20 Millionen Menschen weltweit gehört, die jeden Tag Hunger leiden müssen und zu den 2 Milliarden Menschen, die kein sauberes Trinkwasser haben.

Wenn mein Elternhaus in Afghanistan gestanden hätte, dann würde ich keine Demokratie und keine Freiheit kennen, weil die Taliban das Land regieren. Und wenn meine Wiege in Nordkorea gestanden wäre, dann dürfte ich keine Bibel besitzen, weil ich sonst in ein Arbeitslager kommen würde.

Je länger ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir: Ich habe so viel Gutes im Leben erfahren, weil ich hier in diesem Land geboren wurde. Dafür kann ich nichts. Das habe ich mir nicht ausgesucht und nicht verdient. Alles ist mir geschenkt: Freiheit und Wohlstand. Ein Elternhaus und eine Familie. Kinder, Freunde, Liebe.  Alles habe ich schon so vorgefunden. Die Bibel kennt dafür ein Wort. Sie sagt: Das ist Gnade. Das würde ich meinem Lehrer heute gerne sagen. Kann ich leider nicht mehr. Aber ich kann Gott dafür danken. Und das tue ich jeden Tag.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38318
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