SWR4 Sonntagsgedanken

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27AUG2023
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Immer wieder lese ich im Tagebuch des verstorbenen Tübinger Professors Fridolin Stier. Er war Professor für Altes Testament und ist unter anderem berühmt geworden, weil er verschiedene Biblische Bücher übersetzt hat. Ein sprachgewaltiger und leidenschaftlicher Mann, der zeitlebens nicht nur um das treffende Wort gerungen hat, sondern mehr noch: Er hat mit Gott gerungen und hat es sich in seinem Glauben nie leicht gemacht hat. Ich bin ihm einmal persönlich begegnet und mir bleibt eine seiner Aussagen unvergesslich: “Mein Problem“ sagte er, „ist nicht, ob Gott ist oder nicht, das meine beginnt damit, dass er Er ist.“ Fridolin Stier hatte große Not angesichts vieler leidvoller Erfahrungen, auch in seinem eigenen Leben, fraglos an Gott zu glauben. Er hat mit Gott gehadert und gestritten, gekämpft und hat ihn angefleht und dann oft wieder einfach nur geschwiegen. Aber Gott ist er in seinem ganzen Leben nie losgeworden. Ich glaube, dass eine kleine Notiz in seinem Tagebuch zeigt, wie er trotz aller Krisenerfahrungen in einem tiefen Vertrauen verwurzelt war.

Fridolin Stier erzählt von einem oberschwäbischen Bauern, der auf dem Sterbebett lag. Der Bauer sagte zu seinem studierten Landsmann: “Weißt du, wenn ich daran denke, Sommerfrühe, Sense auf dem Buckel, Mostkrug in der Hand, hinaus, Sonne, glitzernder Tau im Gras, singende Vögel, Himmel und Wald…“Do hätt i denn oft grad juzga kenna!“ Und: “Do hon e gmerkt, dass do no ebbes ischt.“-Stier überliefert diese beiden Sätze im Schwäbischen Dialekt, was auf gut deutsch einfach bedeutet: Da hätte ich oft einfach jauchzen können und da habe ich gemerkt, dass da noch etwas ist.

Das sind keine frömmelnden oder gar abgehobenen Worte. Sie spiegeln den nüchternen und oft beschwerlichen Alltag eines Bauern, der sich aber eine wunderbare Fähigkeit bewahrt hat. Er kann noch staunen. In aller Früh sieht er nicht nur seine Arbeit und was unbedingt erledigt werden muss. Er sieht mehr, vielmehr als das, was man mit den Augen erblicken kann. Er merkt, dass da noch etwas ist, was weit über unsere Möglichkeiten hinausgeht und was wir Menschen nicht machen und erfinden können.

Mich berührt sehr die Bescheidenheit des Bauern. Wie behutsam und zurückhaltend er von seinem Glauben spricht. Ich weiß nicht, wie er Gott und seine Religion erlebt und gelebt hat. Auf jeden Fall blieb für ihn der Himmel immer einen Spalt weit offen. „Da habe ich gemerkt, dass da noch etwas ist“. Vielleicht konnte er sogar manchmal sagen: “Da habe ich gemerkt, dass da noch jemand ist.“

Es gibt einen uralten biblischen Text, der entstanden ist, weil ein Mensch staunt und überwältigt ist: Er schaut zum Himmel, sieht die Sterne und den Mond und spürt: das ist wirklich nicht zu fassen. Der Theologe Fridolin Stier hat den Psalm aus der hebräischen Bibel auch übersetzt und bei ihm heißt es dann so: “Wenn deine Himmel ich schaue, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die fest du gestellt, was ist der Mensch, dass seiner du denkst, der Adamsohn, dass seiner du achtest!

Natürlich kann man die Dinge ganz anders betrachten und weniger ergriffen und poetisch ausdrücken. Die Bibel ist kein naturwissenschaftliches Lehrbuch. Sie ist voll von Glaubenszeugnissen, die in Worten und Liedern hinter die Dinge schauen lassen. Und alle beginnen immer wieder mit dem Staunen. “Warum ist überhaupt etwas und nicht viel mehr nichts?, warum gibt es diese große und einzigartige Schöpfung, warum dieser grandiose Kosmos, in dem wir Menschen ja nur ein Staubkorn sind?“ Wenn ich so frage und dabei zum nächtlichen Sternhimmel aufblicke, komme ich an kein Ende. Mit dem Staunen und sich wundern fängt alles an. So entstehen Gebete und Lieder und aus dem „etwas“ wird ein jemand. So kommt Gott zum Vorschein, der alles geschaffen hat und am Leben hält

Wer staunt steht manchmal ganz dumm da. Sprachlos, mit offenem Mund. Und das ist gut so. Es ist der Moment, wo ich nichts mehr verstehe. Junge Menschen sagen manchmal in so einer Situation mit leuchtenden Augen einfach nur: „wow“

Für mich ist das längst nicht mehr Jargon sondern ein wichtiges theologische Wort, vielleicht könnte ich auch sagen, „Wow“ ist tatsächlicher einer der Namen Gottes. Ich denke, dass mit dem Staunen der Glaube beginnt und dadurch der Himmel immer ein Spalt weit offen bleibt. Wir könnten es ja einmal selber versuchen. Wo immer uns die nächsten Tage hinführen, es gibt sicher Situationen genug, wo wir das Stauen wieder lernen können. Vielleicht ist es das Gesicht eines lieben Menschen oder eine schöne Landschaft oder ein wunderbares Kunstwerk oder was auch immer. Wir stehen da mit offenen Augen und können nichts anderes sagen als einfach nur: wow!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38308
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