SWR4 Abendgedanken
Auch in diesem Jahr habe ich mich wieder an der Erntezeit gefreut. In unserer ländlichen Umgebung fahren von mittags bis abends die Mähdrescher und ziehen riesige Staubwolken hinter sich her. Die Traktoren bringen den Weizen zum Silo, manchmal noch sehr spät am Abend. Tagelang ging das so, jetzt sind nur noch die runden Strohballen auf den Feldern zu sehen. Sie erzählen von der erfolgreichen Ernte in diesem Jahr.
Und auch in diesem Jahr blühen viele Blumen am Wegrand. Ich freue mich an ihren besonderen Farben und ihren Bewegungen im Wind. Sie erzählen von der Schönheit und der Leichtigkeit des Lebens.
Aber in diesem Jahr haben diese beiden Bilder für mich auch ihre Schönheit und Unschuld verloren. Während die Mähdrescher laufen und die Ernte einfahren, erzählen die Nachrichten an jedem Abend, wie Nahrungsmittel als Kriegswaffe eingesetzt werden.
„Mit Lebensmitteln spielt man nicht.“ Mit diesem Satz bin ich in den 60er Jahren aufgewachsen. Lebensmittel lässt man nicht verderben und man wirft sie nicht weg – das ist auch heute noch meine Überzeugung. Weizen wird absichtlich vernichtet, die Ausfuhr von Lebensmitteln unmöglich gemacht durch kriegerische Blockaden. Es macht mich fassungslos und hilflos.
Und auch die Blumen am Wegrand sind nicht mehr nur schön anzusehen. Ich finde sie auch an der Ahr, ganz bei uns in der Nähe. Im Sommer ist dieser Fluss nur ein Rinnsal und das breite Flussbett bietet vielen schönen Blumen Platz. Wenn ich jetzt dort spazieren gehe, schwingt auch die Erfahrung der Naturgewalt mit: die Flutwelle, die alles mitgerissen hat und Menschenleben und Existenzen zerstört hat. Auch heute sind noch viele Menschen im Ahrtal nicht wieder in ihrer Normalität angekommen. Es gibt nicht nur die sichtbaren Verletzungen und Zerstörungen von Häusern, Straßen, Kirchen, Geschäften, Weinbergen und Gärten. Es gibt auch noch viele seelische Verletzungen.
Was werde ich heute Abend tun, wenn die Nachrichten von der Zerstörung der Getreidesilos erzählen oder ich von Naturkatastrophen höre und mein Blick aus dem Fenster auf die Felder geht?
Ich werde mich hilflos und ohnmächtig fühlen. Ich werde wütend und ärgerlich sein. Und ich werde das tun, was Menschen seit Tausenden von Jahren tun: ich werde alle diese Gefühle Gott hinhalten, sie ihm anvertrauen. Das große Gebetbuch der Psalmen kennt alle diese Gefühle: Ohnmacht, Hilflosigkeit, Wut und Trauer. Und all das, darf ich Gott hinhalten. Das Zulassen und Aussprechen tut gut. Es nimmt mir auch die Angst, dass ich allein bin in meiner Hilflosigkeit und der Sorge über den Zustand der Welt.
Und es gibt mir auch den Mut, die kleinen Schritte zu tun, die ich dazu beitragen kann, dass sich etwas verändert: weiterhin verantwortungsvoll mit Nahrungsmitteln und den Ressourcen der Welt umzugehen. Die Hungernden nicht zu vergessen und natürlich die Menschen im Ahrtal nicht aus dem Blick zu verlieren und sie weiterhin zu unterstützen mit einem offenen Ohr oder einer konkreten Hilfe. Das sind nur kleine Schritte, aber Schritte.
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