SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

12JUL2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

In meiner Nachbarschaft gibt es einen wunderschönen Vorgarten. Üppig wuchern Rosen über den Gartenzaun und betören mit ihrem Duft. Zwei Feigenbäume tragen reichlich Früchte, Zitronenbäume leuchten gelb. Jedes Mal, wenn ich an diesem Garten vorbeigehe, erfreue ich mich an seiner Pracht. Ich schnuppere an den Rosen und genieße ihren Duft. Ich sehe auch viele andere Menschen, die vor diesem Garten stehenbleiben. Oft schon hatte ich mich gefragt, wieso jemand sich so viel Mühe mit einem Garten macht. Im Vorgarten steht keine Bank. Er ist offenbar nur aus Liebe zu den Pflanzen so schön angelegt. Oder – wer weiß – vielleicht aus Zuneigung zu den Menschen.

Häufig sieht es ja ganz anders aus. Da gibt es Vorgärten des Grauens, die lediglich aus Schottersteinen bestehen, zwischen denen Ziergräser ihr trübes Dasein fristen. Oder die Gärten sind abgeschlossen. Der verschlossene Garten, der hortus conclusus, ist ein wichtiges Thema der Kunst und biblisch angeregt. Im biblischen Hohelied heißt es (Hld 4, 12): Ein verschlossener Garten bist du, meine Schwester, meine Braut. Du bist wie ein Lustgarten von Granatäpfeln mit edlen Früchten. In der bildenden Kunst des Mittelalters, die das Motiv des verschlossenen Gartens aufgreift, gehört die Rose unbedingt in einen solchen Garten, Mystiker und Künstler nehmen das auf – bis in die Gegenwart.

Doch hier, mitten in einem städtischen Vorgarten, blüht das Paradies nicht verborgen, sondern für alle sichtbar und stellt sich den Vorbeigehenden zur Verfügung. Die Rosen hängen über den Gartenzaun und spenden ihren Duft.

Neulich habe ich dann zum ersten Mal einen Mann gesehen, der im Garten gearbeitet hat. Ich habe mich erkundigt, ob er der Besitzer ist. Sehr zurückhaltend hat er das bestätigt. Es wirkte so, als hätte er die Befürchtung, ich würde mich gleich über die Rosen beschweren, die über den Zaun hängen oder über deren Dornen. Angst vor der typisch deutschen Beschwerdekultur. Ich habe mich stattdessen bedankt. Ich habe ihm erzählt, dass ich mich jetzt schon seit mehreren Jahren an seinem Garten erfreue und es gar nicht selbstverständlich finde, dass er so viel Arbeit investiert. Ja, er macht Arbeit, der Garten hat der Mann bestätigt. Sehr viel Arbeit. Ich hatte den Eindruck, ich bin die erste, die dafür Danke sagt. Der Mann hat sich sehr darüber gefreut.

Heute gilt mein Gruß allen, die aus ihren Vorgärten kleine Paradiese machen, sich selbst und anderen zur Freude. Sie bringen ein Stück Himmel auf unsere so bedürftige Erde. Ihnen gebührt Dank! Manchmal darf das Paradies auch gerne öffentlich sichtbar sein.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37977
weiterlesen...