SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

05APR2023
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In Tübingen gibt es eine Unterführung unter den Bahn-Gleisen hindurch. Ein hässlicher Ort: Gefliest, zugig, dreckig und alle Menschen versuchen nur, möglichst schnell auf die andere Seite zu kommen. Ich selbst fahre dort häufig mit dem Fahrrad durch, schnell und zackig und achte höchstens auf die anderen, um sie nicht umzufahren. Aber wissen Sie was: Ausgerechnet an diesem unangenehmen Ort habe ich eine Ahnung davon bekommen, wie es sich vielleicht früher angefühlt hat, Jesus zu begegnen.

In dieser Unterführung sitzt manchmal ein Musiker, ein Akkordeonspieler. Er spielt und spielt und spielt, völlig vertieft in seine Musik. Meist sind es ruhige, eher traurige Melodien, die ich nicht kenne. Es klingt nach Volksmusik, vielleicht irgendetwas osteuropäisches. So radele ich an ihm vorbei und vergesse ihn meist im Alltagstrubel schnell wieder.

Aber vor ein paar Tagen spielte sich in der Unterführung eine Szene ab, die ist mir Gedächtnis geblieben: Eine alte, gebückte Frau kam auf den Akkordeonspieler zu. Bedächtig lehnte sie ihren Krückstock an die Wand neben ihm. Sie stelle sich vor ihn und hob die Hände, so auf Brusthöhe. Ich bremste mein Fahrrad ab. Was ging denn da vor sich? Und dann begann die Frau zu tanzen. Bedächtig. Sehr konzentriert. Sie tanzte. Der Akkordeonspieler änderte seine Melodie. Sie wurde fröhlicher, wilder. Blicke trafen sich. Menschen lachten sich an. Und die alte Frau tanzte, aufrecht, mit einer unglaublichen Leichtigkeit.

Und dann war es auch schon wieder vorbei. Die beiden verbeugten sich voreinander. Die Frau nahm ihren Krückstock und ging weiter. Ein kleines, fast freches Lächeln umspielte ihren Mund. Der Akkordeonspieler sah ihr noch einen Moment nach. Dann spielte er wieder seine traurigen Melodien. Und ich stieg wieder auf mein Fahrrad und fuhr weiter.

Ich glaube, dass genau das passiert ist, wenn früher Menschen Jesus begegnet sind: Sie haben sich aufgerichtet, einen Moment aufgeatmet, ihre eigene Schönheit und die Schönheit der Welt erfahren. Und sind dann mit dieser Erinnerung im Herzen weitergegangen auf ihrem Lebensweg. Verändert weitergegangen. Zumindest ein wenig.

Ich wünsche uns allen immer wieder solche „Jesus-Momente“. Spitzen Sie die Ohren und halten Sie die Augen auf! Es gibt sie! Auch heute noch…

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