SWR2 Wort zum Tag

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07MRZ2023
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Nach der biblischen Schöpfungsgeschichte formt Gott den Menschen aus Erde und bläst ihm den Atem des Lebens in seine Nase. Dieses biblische Bild beschreibt, dass wir Menschen Anteil haben an der göttlichen Kraft. In uns atmet der Geist Gottes. In besonders wertvollen Augenblicken kann ich das deutlich fühlen, und es bewegt mich bis in die Tiefen der eigenen Persönlichkeit. Ich habe die Geburt meines Kindes so erlebt, den ersten Schrei, wenn - bleiben wir einmal bei den Worten der Bibel - Gottes Atem in ein Neugeborenes strömt. Der erste Atemzug, das Wunder der Schöpfung. Ich finde es ein großartiges Bild, dass Gottes Atem in uns fließt und unsere Lungen und unser Leben, unsere ganze Persönlichkeit erfüllt. Es ist die göttliche Schöpfermacht, die uns am Leben hält und in jedem Atemzug erfahrbar werden kann.

Sicherlich ist es daher kein Zufall, dass unsere menschliche Fähigkeit, selbst kreativ zu wirken, mit Atem assoziiert wird - und zwar mit einem göttlichen Atem. Sprichwörtlich wird der Künstler durch die Muse geküsst. Ein Kuss - Atem vermischt sich, die Muse haucht ihre Inspiration ein, und so wird der Mensch fähig zum gestalterischen Prozess.

Ich glaube, dass alle Menschen so geküsst sind, mal mehr, mal weniger lang.

Dem finnischen Komponisten Sibelius ist es nach seiner 7. Symphonie nie gelungen, eine 8. zu schreiben. 30 Jahre lang hat ihn dann in der Einsamkeit der Inseln und Seen seines Heimatlandes eher der Geist des Alkohols erfüllt als der der Musik. Er hat es sozusagen nur unter Narkose ertragen, dass er nicht mehr geistvoll komponieren konnte.

Andere konnten damit besser umgehen. Richard Wagner hat einmal seinen Kollegen Rossini besucht, der – zwar immer noch berühmt und hochgeehrt – jedoch längst die Lust verloren hatte, Opern zu schreiben. Seine Leidenschaft galt inzwischen der Kochkunst. Als Wagner ihn in ein tiefsinniges Gespräch über die Zukunft des Musikdramas verwickeln wollte, hat ihn Rossini mit dem Hinweis unterbrochen: "Ich muss jetzt in die Küche!" Seine berühmten Tournedos Rossini verlangten eben die volle Aufmerksamkeit. Wagner hat den Ort des Geschehens schließlich entnervt verlassen.

Ich vermute: Rossini muss ein sehr glücklicher Mensch gewesen sein. Das wünsche ich mir auch: Dankbar sein für die schöpferischen Küsse, die ich empfangen habe, gelassen mit dem Ausbleiben umgehen können. Dankbar für mein Leben, das sich einem solchen schöpferischen, göttlichen Kuss verdankt. Und, ganz nebenbei, für die anderen Küsse auch.

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