SWR2 Wort zum Tag

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03MRZ2023
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Meine Mutter hat mir das Tagebuch meines Onkels gegeben. Es endet dramatisch: mitten im Satz hört es auf. Mein Onkel Hans war gerade dabei aufzuschreiben, wie er die Ostertage verbracht hat. Da nähern sich die Soldaten der Alliierten. Wahrscheinlich geht dann alles sehr schnell. Eine Kugel trifft Hans in den Rücken. Im April 1945, wenige Monate vor dem Ende des 2. Weltkriegs. Er ist nur 17 Jahre alt geworden. Seine Mutter hat erst nach 5 Jahren erfahren, dass ihr Sohn tot ist.

Nach allem was ich weiß, konnte Hans mit dem Nationalsozialismus nichts anfangen. In seinem Tagebuch geht es nicht um Parolen und Politik. Ihn haben andere Dinge beschäftigt: Hans hat gerade noch das Notabitur in Schlesien abschließen können, hat in seiner Freizeit Orgel gespielt und war Ministrant. Weil er gern und viel gelesen hat, hätte er gern Literaturwissenschaften studiert. Stattdessen wurde er zum Kriegsdienst einberufen. Das heißt: Runter von der Schulbank und rein in die Kaserne. Da hatten er und seine Kameraden keine Wahl. In seinem Tagebuch schreibt er von schönen Tagen, wenn es genug zu Essen gab. Doch es gab auch Zeiten, da ging niemand satt ins Bett. Umso mehr haben alle geraucht, um den Hunger zu überdecken.

Ich hätte Hans sehr gern kennen gelernt. Hans stelle ich mir als ernsthaften Jugendlichen vor, der versucht, seinen Weg ins Leben zu finden. Andere schwärmten von ihren Freundinnen, die sie so gern besucht hätten. Hans freut sich darauf, in der kleinen Dorfkirche mal wieder Orgel spielen zu können. Er schreibt regelmäßig Briefe an seine Mutter und spricht ihr Mut zu.

Wenn ich Hans eine Botschaft schicken könnte, würde darinstehen: „Ich habe Dich nicht vergessen. Nach 78 Jahren gibt es in Freiburg jemanden, der manchmal an Dich denkt.“ Das Tagebuch von Onkel Hans kann ich nicht oft lesen. Nach einer Seite muss ich es oft schon weglegen. Weil es mich jedes Mal so traurig und wütend macht. Wie falsch und sinnlos dieser Krieg war! Millionen Opfer, halb Europa zerstört. Und jetzt greift Russland die Ukraine an: wieder fahren Panzer und fallen Bomben, wieder sterben unzählige Menschen. Mit Worten kann ich nicht beschreiben, was ich da fühle.

Das Tagebuch ist für mich ein kleines Stück Familiengeschichte. Und es zeigt mir, wie viel Glück ich gehabt habe, in Friedenszeiten aufzuwachsen. Möge wieder Frieden einkehren in ganz Europa und überall in der Welt. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37172
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